CFP: Einfach Aussortieren? Machtaffirmierende Erzählwelten zwischen Zumutbarkeit und Verletzung in der literaturdidaktischen Diskussion (30.04.2022)

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Wirft man einen Blick auf die literaturdidaktische Forschungsliteratur zu Konzeptionen eines machtkritischen (rassismussensiblen/inklusiven/gendersensiblen/intersektionalen…) Literaturunterrichts, dann ergibt sich folgender Befund: Die politischen Kämpfe um eine stärkere Awareness für gesellschaftliche Diskriminierung und Ausgrenzung haben sich – insbesondere in institutionellen Kontexten – hinlänglich auf die Beurteilung von Kinder- und Jugendliteratur übertragen. Hinsichtlich einer rassismussensiblen Lektüre haben sich beispielsweise gängige Analyseraster in der Deutschdidaktik etabliert, die auch für angehende Lehrkräfte, die Diskussionen der Postcolonial Studies für die spätere Schulpraxis in nachvollziehbarer Weise handhabbar machen (u.a. Morrison 1992, Rösch 2017, Kißling 2020). Mit diesen Rastern ist es Didaktiker:innen möglich, „Standpunktreflexivität“ (Fereidooni und Simon 2020) in gleich mehrfacher Hinsicht zu gewinnen: in Bezug auf ihre eigene Person, in Bezug auf die ausgewählten Autor:innen der Lektüren für den Deutschunterricht, in Bezug auf die dargestellten Figuren und in Bezug auf den Standpunkt des jeweiligen literarischen Texts insgesamt. Ähnliches gilt auch für den gendersensiblen Literaturunterricht (Brendel-Perpina/Heiser/König 2020; Josting/Hoppe 2006, Kauer 2019). Für inklusive Lektüren haben u.a. Backofen (1987), Koné (2007) und Frickel (2015; 2020) Überlegungen für den Literaturunterricht angestellt. Mit Hilfe solcher Kriterienraster wird es einfacher, diskriminierende Machtasymmetrien im Kinder- und Jugendbuch zu erkennen.

Doch was genau ist die sich dadurch ergebende didaktische Konsequenz? Bemerkt man als Lehrkraft für das Fach Deutsch, dass ein Buch gewisse problematische Denkmuster vermittelt oder affirmiert, dann wäre es vor allem in den frühen Klassenstufen eine logische und naheliegende didaktische Folge, diese schlichtweg aus dem Kanon auszusortieren.

Vielleicht ist diese Antwort jedoch etwas zu voreilig gegeben. Viele dieser kinder- und jugendliterarischen Texte, die hinsichtlich einer oder mehrere Differenzlinien problematisch erscheinen, sind weltweit zu Kinderbuchklassikern avanciert und selbst jüngere Adaptionen lösen sich nicht gänzlich von den problematischen Inhalten ihrer Prätexte. Das heißt, Kinder begegnen in ihrem Alltag über erzählte Welten (gleich welchen Mediums) ohnehin Vorurteilen und Stereotypenbildungen, die sich in den Wahrnehmungsgewohnheiten der Kinder habitualisieren (Clark/Bancroft 1947, Schmidt 2020, Eggers 2005). Zudem beruhen Versuche, derartige Logiken mittels Kanonrevision aus dem Literaturunterricht zu verbannen, nicht nur auf einer naiven Vorstellung davon, was Kindgemäßheit bedeutet und worüber man im Literaturunterricht bereits früh mit Kindern sprechen kann (Ritter/Ritter 2014), sondern erweisen sich schlicht als eine Unmöglichkeit, da die Grenze dessen, was im kinder- und jugendliterarischen Vermittlungskontext noch als ‚tragbar und akzeptabel‘ angenommen wird, strittig ist. 

Wie allerdings ein nicht-immersives Lesen von Texten speziell mit Kindern in der Grundschule und der frühen Sekundarstufe machtsensibel und verletzungsarm gelingen kann, ist bislang kaum diskutiert und untersucht worden. Hier möchte unsere Tagung Impulse setzen und einen theoretischen Rahmen für mögliche Gelingensbedingungen schaffen. Im Mittelpunkt der Tagung sollen also kinder- und jugendliterarische Texte stehen, die in demokratischer Hinsicht als (zumindest teilweise) problematisch zu beurteilen sind. Entwickelt und vorgestellt werden sollen 1) didaktische Konzepte, wie ein nicht-immersives Lesen solcher Texte mit Kindern und Jugendlichen möglich gemacht werden kann und welche Grenzen sich hierbei auch ergeben, 2) welche empirischen Verfahren überhaupt denkbar und ethisch verantwortbar sind, um über eine reine Gegenstandsorientierung hinaus auch Aneignungsperspektiven bzgl. dieser Forschungsfrage einzuholen, und 3) welche Rolle das näher zu bestimmende Zusammenspiel zwischen ästhetischen Fragen jener literarischen Texte auf der einen und der sozialen Situiertheit von Autor:innen und jungen Rezipierenden auf der anderen Seite im Literaturunterricht spielt.

Mögliche Themen sind:

  • Wie kann ein feministischer Märchenunterricht mit den Grimm’sche Märchen aussehen?
  • Wie können Texte, die (implizit) kolonial-rassistische Logiken tradieren und von Kindern in der Freizeit rezipiert und geschaut werden, in der Grundschule bzw. frühen Sekundarstufe machtreflexiv gelesen werden?
  • Wie lassen sich Texte mit abelistischen oder klassistischen Diskursmustern für die frühen Klassenstufen aufbereiten?
  • Wie lassen sich literarische Anschlusskommunikationen sprachreflexiv und verletzungsarm gestalten und inwiefern erweist sich dies im Vermittlungskontext Literatur geboten?
  • Welche Forschungsliteratur (empirisch und konzeptuell), auch aus Bezugsdisziplinen, gibt es zu diesem Themenkomplex? Was kann aus dem internationalen Forschungsraum für die germanistische Literaturdidaktik übernommen werden?
  • Welche Gründe gibt es, diese problematischen Texte weiterhin zu lesen bzw. aus dem Unterricht zu verbannen?
  • Welche Verfahren der empirischen Literaturdidaktik eignen sich für Erhebung und Datenauswertung dieser auf Wirkungsästhetiken zielende Fragestellungen in besonderer Weise, welche Verfahren haben sich bewährt (es können auch unabgeschlossene Forschungsvorhaben oder erhobene Daten mit ersten Interpretationsansätzen vorgestellt werden)?

Die Tagung soll vom 03. bis 05.11.2022 an der Universität Paderborn stattfinden. Interessierte können ein Abstract (max. eine DIN A4-Seite) für einen 25-minütigen Vortrag inkl. biobibliographische Angaben bis zum 30.4.2022 an Jun.-Prof. Dr. Magdalena Kißling (magdalena.kissling@uni-paderborn.de) und Dr. Johanna Tönsing (johanna.toensing@uni-paderborn.de) senden. Die Bewerbung von Nachwuchswissenschaftler:innen ist ausdrücklich erwünscht. Wir bemühen uns um eine (Teil-)Übernahme von Reise- und Übernachtungskosten. Die Beiträge sollen anschließend in einem Tagungsband veröffentlicht werden.