KONF: Postkoloniale Germanistik und Konflikte im globalen Kontext, Bremen (24.02. – 25.02.22)

Serge Yowa's picture

Workshop: Postkoloniale Germanistik und Konflikte im globalen Kontext

24. und 25. Februar 2022, Universität Bremen, Institut für kulturwissenschaftliche Deutschlandstudien

in Zusammenarbeit mit der Universität Paderborn

Konzept des Workshops

Gewalt, Kriege und Konflikte wurden im 20. Jahrhundert als dem „Jahrhundert der Katastrophen“ (Hobsbawn 1995) zu meist verwendeten Mitteln der Politik und prägten die medialen Berichterstattungen wie kaum ein anderes Thema. Besonders seit der Jahrtausendwende ist das Streben politisch organisierter ethnischer Gruppen nach Unabhängigkeit der zentrale Gegenstand für heftige Konflikte in der Welt. Man denke etwa an die Kriege in Afrika, im Nahen Osten, in Osteuropa usw., die auch globale Konflikte darstellen. Stellvertretend zu nennen sind: der Krieg im Sudan zwischen 1983 und 1999 sowie der Bürgerkrieg 1994 in Ruanda und der Bürgerkrieg in Ex-Jugoslawien (siehe vor allem das Massaker rund um Srebrenica). Im Vergleich zu den 1990er Jahren hat die Anzahl der Gewalttaten und (Bürger-)Kriege weltweit mittlerweile zugenommen (vgl. Metz 2010; Göttsche u.a. 2006). Seit 2011 sind der Syrien-Krieg sowie der islamistische Terrorismus ein großes Konflikt-Thema auf der ganzen Welt. Auch nationalistische Strömungen sind weltweit noch stärker geworden (z.B. die AfD etc.) und haben zu stärkeren politischen Konflikten insbesondere in Bezug auf Migration geführt.

Manche Kriege und Massenverbrechen haben in den letzten Jahrzehnten eine hohe Anzahl von Migranten, Vertriebenen und Geflüchteten in den westlichen Ländern herbeigeführt. Die Konjunktur globaler Krisensituationen und Migrationsbewegungen (vgl. Oltmer 2017) in manchen Kontinenten, die nicht ohne Folge für die Ankunftsländer (z.B. Deutschland) und deren Kulturen sind, sind zu einem wachsenden Thema in der Literatur geworden. So reagiert vor allem die so genannte „postkoloniale deutschsprachige Literatur“ (vgl. Mecklenburg 2008, 280-286; Hofmann 2006, 170-177; Lützeler 2005) auf diese Phänomene, indem sie sie thematisiert und versucht, adäquate poetische Mittel zu finden, um sie anschaulich zu machen. Diese Literatur vermittelt differenzierte Einblicke in gesellschaftliche Katastrophen, die mit Konflikten und Kriegen verbunden sind (vgl. Lützeler 2009). Die postkolonialen Tendenzen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gehen mit einer äquivalenten Entwicklung und Neuausrichtung der Geistes- und Kulturwissenschaften einher (vgl. etwa Bachmann-Medick 2009). So avancierten in den vergangenen Jahren die Postcolonial Studies im deutschsprachigen Raum – wenn auch mit größerer Verspätung im Vergleich zum angloamerikanischen Raum – durch ihr innovatives epistemologisch-kritisches, gleichzeitig auch provokatives Potential zu einem wichtigen Leitparadigma der germanistischen Sprach- und Literaturwissenschaft. Mittlerweile hat sich die In- wie Auslandsgermanistik in ihrer postkolonialen Orientierung zu einem höchst produktiven Arbeitsfeld entwickelt (vgl. u.a. Göttsche/Dunker/Dürbeck 2017; Dürbeck/Dunker 2014; Uerlings/Patrut 2012; Albrecht 2008; auch programmatisch Simo 1999; Lützeler 1998). Zu den Verdiensten der postkolonialen Literaturwissenschaft zählen die Fähigkeit, „Funktionsmechanismen kolonialer Machtverhältnisse“ in literarischen Texten zu ermitteln (Febel 2012, 230), „kontrapunktisches Lesen“ durchzuführen, (neo-)koloniale (Denk-)Strukturen in der deutschsprachigen Literatur offenzulegen und diese kritisch zu reflektieren (vgl. Dunker 2008; auch Said 1993).

Generell fasst der postkoloniale Blickpunkt die Gegenwart als Produkt der Vergangenheit auf und ist zukunftsorientiert. Er setzt sich – diametral im Gegensatz zum kolonialen Diskurs, welcher auf Eroberung, Dominanz und Ausbeutung abzielt – mit neokolonialistischen Praktiken in der Gegenwart auseinander und ist um eine „Aufarbeitung historischer Fehlsituationen in der kolonialen Vergangenheit“ bemüht (Lützeler 2017, 209). So beschäftigt sich die postkoloniale Germanistik mit den verschiedenen Modi der Verarbeitung der kolonialen Vergangenheit in der deutschsprachigen Literatur (vgl. Göttsche 2013) und untersucht diese als Ort der Entfaltung eines kolonialen und „postkolonialen Gedächtnisses“ (Messerschmidt 2008, 42). Es mag in dieser Hinsicht nicht verwundern, dass sie nicht nur vergangene, sondern auch gegenwärtige Machtkonstellationen und Gewaltdiskurse in der Literatur erkundet und andere Formen und Möglichkeiten individuellen Handelns und gesellschaftlicher Systeme oder Diskurse prospektiv entwirft. Literarische Darstellungen von Gewalt und Krieg gehören daher auch zu den privilegierten Untersuchungsgegenständen der postkolonialen Germanistik. In diesem Zusammenhang finden aktuelle sozial und kulturell bedingte konfliktive Logiken Eingang in die Interessensfelder postkolonialer Germanistik, die Literatur als eine „Poetik des Fremden“ (Honold 2014) untersucht. Im Kontext der Cultural und Postcolonial Studies liegt es auf der Hand, dass die Begegnung mit dem ‚Fremden‘ nicht immer konfliktlos erfolgt. Zudem gilt die Erkenntnis, dass manche (auch durch Kulturkontakte bedingte) Konflikte weltweit politisch motiviert sind, ein ideologisch-identitäres Fundament haben und mit Macht-, Herrschafts- und Hegemonieverhältnissen verbunden sind. Das Denken in binären Oppositionen als eine Ausdruckform von (kulturellen) Dominanzverhältnissen trennt die Welt in dichotomischen Kategorien von Gut und Böse und folgt einer diskursiven Logik, durch die Inklusionen und Exklusionen sowie gewalttätige Ausschreitungen in manchen Gesellschaften ständig organisiert werden. Darüber hinaus stellen ein starrer und aggressiver Nationalismus sowie eine damit einhergehende Tilgung des Ambivalenten und Differenten Phänomene dar, die den Weg für die Entfaltung von Konflikten ebnen.

Die Literatur hat sehr oft an der Entstehung, Entwicklung und Verbreitung konfliktiver dualistisch-rassistischer Weltanschauungen partizipiert – gedacht wird hier etwa an die Kolonialliteratur, die nicht nur dem Kolonialismus, sondern auch dem Nationalsozialismus als Inspirationsquelle bzw. als Katalysator diente. Indem sie sich ideologiekritisch eines postkolonialen Zugriffs sowie poststrukturalistischer Denkfiguren bedient, vermag die Germanistik das Denken in manichäischen Kategorien, wie es sich auch in einigen literarischen Texten manifestiert, infrage zu stellen und klischeehaften Vorstellungen über den ‚Anderen‘ eine Absage zu erteilen. Sie vermag es, die Vorstellung starrer Polarisierungen nach dem Schema ‚Selbst – Anderer’, zugleich damit die ganzheitlich-holistische Vorstellung einer unabhängigen Kultur und Identität mit fixierten Grenzen und einem stets gleichbleibenden Kern zu verabschieden. Bei ihrer Fokussierung insbesondere etwa auf die ‚postkoloniale deutschsprachige Gegenwartsliteratur‘, auf die Exilliteratur, die Reiseliteratur, die ‚Literatur der Migration‘ und die so genannte ‚Katastrophenliteratur‘, das heißt jene Literatur, die politisch-soziale Katastrophen wie (Bürger-)Kriege und Genozide zu ihrem Thema macht, kann die postkoloniale Germanistik darin konfliktauslösende Situationen und Einstellungen herausarbeiten, die zumeist von einem kulturalistischen Denkmuster bei der Thematisierung der Begegnung zwischen Eigenem und Fremdem bedingt und geprägt sind. Die postkoloniale Lektüre dieser Literaturen kann also Diskursstrategien zutage fördern, mit denen Eigenes und Fremdes konstruiert werden sowie den Sinn und Zweck von Selbst- und Fremdzuschreibungen aufzeigen. Vor diesem Hintergrund wird Literatur von der postkolonial ausgerichteten Literaturwissenschaft – analog etwa zu der interkulturellen Literaturwissenschaft (Hofmann/Klemme/Patrut 2016; Leskovec 2011, 10, 33) – nicht zuletzt im Kontext von Globalisierung und zunehmender räumlicher Mobilität und neuer Kriege in einen konkreten gesellschaftspolitischen Kontext eingebettet und als dessen kritisches Spiegelbild aufgefasst. Literatur wird also hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Relevanz bzw. als Metadiskurs zu sozialen Problemen und Prozessen untersucht. Sie wird als ein Ort aufgefasst, in dem kulturelle Identität mitgestaltet wird, „Imaginationen der Homogenität“ problematisiert und andere Möglichkeiten dargelegt werden können (vgl. Hofmann/Patrut 2015:7). Damit verfolgt die postkoloniale Germanistik gesellschaftspolitische Ziele, denn sie reagiert nicht nur auf gesellschaftlich-kulturelle Prozesse wie Globalisierung, Migration und Gewalt, sondern nimmt auch Ungleichheit, Herrschafts- und Machtverhältnisse sowie die Frage interkulturellen Zusammenlebens in den Blick und möchte dabei helfen, eine friedlichere, konfliktfreiere Welt zu erreichen.

In einer Ära zunehmender (Bürger-)Kriege, ethnischer Säuberungen, Vertreibungen und Massenvergewaltigungen kann die postkoloniale Germanistik als eine Reflexionswissenschaft aufgrund ihres historischen und epistemologisch-hermeneutischen Funktionspotenzials Paradigmen entwickeln, die es ermöglichen können, gesellschaftliche Phänomene zu konzeptualisieren. Sie kann Analyseinstrumentarien liefern, um etwa den – literarisch inszenierten – wieder erstarkenden Nationalismus bzw. politisch-religiösen Fundamentalismus auf der Welt nachzuvollziehen und die verborgenen Quellen mancher Konflikte und Gräueltaten aufzuspüren. Diesem zentralen Anliegen und dem damit einhergehenden, weiter oben beschriebenen Themen- und Problemkomplex widmet sich der an der Universität Bremen geplante Workshop zum Thema „Postkoloniale Germanistik und Konflikte im globalen Kontext“. Der Workshop soll Anlass bieten, über Möglichkeiten und Perspektiven der postkolonialen Germanistik in einem Kontext globaler soziopolitischer Unruhen nachzudenken. Folgende und ähnliche Themenschwerpunkte und damit verbundene Fragestellungen werden ausgelotet bzw. vertieft oder erweitert werden:

  • Praxisrelevanz und prospektive Funktion der postkolonialen Germanistik: Was kann die postkoloniale Germanistik zur Utopie einer konfliktlosen Gesellschaft beitragen? Inwiefern kann sie hegemoniale Konflikte prospektiv verhindern, etwa durch die Kritik an ‚Totalitätsbestrebungen‘ als eine Ausdrucksform des modernen Totalitarismus (Johnson 1990; Hermand 1995)? Welche Möglichkeiten und Voraussetzungen eines konfliktfreien Zusammenlebens von Völkern und Menschen verschiedener Kulturen oder Ethnien können durch eine postkoloniale literaturwissenschaftliche Praxis aufgezeigt werden?
  • Postkoloniale Germanistik, (post-)koloniales und „multidirektionales“ Gedächtnis (Rothberg 2009): Wie lässt sich der Zusammenhang zwischen postkolonialer Germanistik und (post-)kolonialem Gedächtnis herstellen und inwiefern kann er im globalen Zeitalter fruchtbar sein? Worin besteht die identitätsstiftende und zukunftsrelevante Funktion der Erinnerung in diesem Kontext? Inwiefern und unter welchen Voraussetzungen können im Rahmen einer postkolonialen Germanistik das Menschheitsverbrechen der Shoah mit Verbrechen der Kolonisation und der (Bürger-)Kriege der Gegenwart im Hinblick auf ihre Ursache und Funktionsweisen zusammengebracht werden? Wie werden diese traumatischen Ereignisse in literarischen Texten und zu welchem Zweck zusammengedacht?
  • Postkoloniale Germanistik und Konflikttheorien: Inwiefern können die postkolonialen Theorien auch als Konflikttheorien fungieren und zu einem Präventionsansatz avancieren? Wie können sie zum besseren Verstehen des Funktionsmechanismus der Gewalt beitragen und welche Alternativen zu Macht und Gewalt können sie vorschlagen oder kritisch erörtern? Mit welchen Ansätzen lässt sich die Frage nach den Erscheinungsformen und Wirkungsweisen von Konflikten sowie nach den unterschiedlichen Modi ihrer literarischen Inszenierung geeignet untersuchen? Inwiefern können sich konfliktsensible Ansätze und allgemeine Theorien von Macht, Gewalt und (Bürger-)Krieg in der postkolonialen Germanistik als angemessen erweisen, um Besonderheiten der (Katastrophen-)Literaturen produktiv zu erfassen und ein mehrperspektivisches Bild darauf zu gewinnen?
  • Postkolonialer Blickpunkt und ethisches Bewusstsein: Welche ethischen Werte können durch die Praxis postkolonialer Germanistik in Forschung und Lehre vermittelt oder kritisch diskutiert werden?
  • Interkulturell-postkoloniale Germanistik und globale Migration: Inwiefern lassen sich interkulturelle und postkoloniale Germanistik hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Relevanz in Beziehung zueinander bringen? Wie lassen sie sich im heutigen Migrationskontext und im Angesicht der bemerkbaren sozialen Krisen und Turbulenzen neu denken und konfigurieren?

 

Programm

Donnerstag, 24. Februar 2022

10.30 Uhr: Eröffnung des Workshops

- Prof. Dr. Axel Dunker, Leiter des Instituts für kulturwissenschaftliche Deutschlandstudien (Bre­men)

- Prof. Dr. Michael Hofmann, Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft (Paderborn)

- Dr. Serge Yowa, Postdoc-Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung (Yaoundé/Bremen)

Sektion I: Interkulturell-postkoloniale Germanistik und globale Migrations- und Flucht-erfahrungen

11.00 Uhr Iulia-Karin Patrut (Flensburg): Interkulturell-postkoloniale Germanistik. Über­legungen ausgehend von Ijoma Mangolds Das deutsche Krokodil

11.45 Uhr Cornelia Zierau (Paderborn): Literarische Inszenierungen von kulturellen Zwischen­räumen durch Mehrsprachigkeit in (post)migrantischer Literatur

12.30 Uhr: Mittagspause

14.15 Uhr Swen Schulte Eickholt (Paderborn): Fluchterfahrung. Mahi Binebine, Luiz Ruffato und Friedrich Christian Delius im Vergleich

Sektion II: Literaturdidaktische und transdisziplinäre Perspektiven der postkolonialen Germa­nistik

15.00 Uhr Stefan Hermes (Duisburg-Essen): Postkoloniale Studien oder/und/als Intersektionalitätsforschung? Überlegungen zum Verhältnis zweier Paradigmen innerhalb der germanistischen Literaturwissenschaft

15.45 Uhr Magdalena Kißling (Paderborn): Literarisches Lernen zwischen Empathie und wirkungsästhetischer Distanzierung. Eine Verhältnisbestimmung

Sektion III: Gewalt, Erinnerung und ethisches Bewusstsein – postkoloniale Perspektiven und Konstellationen

16.30 Uhr Michael Hofmann (Paderborn): Michael Rothbergs „Multidirectional Memory" in der Diskussion - mit einem Blick auf postkoloniale und andere Israel-Diskurse

Freitag, 25. Februar 2022

Sektion III (Folge)

9.00 Uhr Serge Yowa (Yaoundé/Bremen): Die Gewalt multidirektional und postkolonial: Zur Relevanz politisch-ethischer Fragen in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Erforschung von Gewaltgeschichten

9.45 Uhr Hajnalka Nagy (Klagenfurt): Literarische Formen multidirektionaler Erinnerung. Am Beispiel der Romane von Claudio Magris, Martin Horvath und Anna Mitgutsch

10.30 Uhr: Kaffeepause

11.00 Uhr Linda Maeding (Bremen): Verwobene Geschichten im Exil. Zur Literatur von NS-Flüchtlingen in Lateinamerika

11.45 Uhr Monika Albrecht (Vechta): Erinnerungspolitik und koloniale Gewalt?

12.30 Uhr:  Mittagspause

14.00 Uhr Donata Weinbach (Bremen): Gegen den Strich. Darstellungsweisen in der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss

14.45 Uhr Abschlussdiskussion: Prospektive Funktion der postkolonialen Germanistik im Zeit­alter globaler Konflikte

15.15 Uhr: Schluss

*Anmerkung: Wegen der aktuellen Corona-Lage in Bremen wird der Workshop jetzt online stattfinden, über die Plattform "Zoom".

Contact info:

Prof. Dr. Axel Dunker, Universität Bremen

axel.dunker@uni-bremen.de

Prof. Dr. Michael Hofmann, Universität Paderborn

michaelhofmann@posteo.de

Dr. Serge Yowa, Universität Yaoundé I/Universität Bremen

sergeyowa@gmail.com  

Dr. Jan Gerstner, Universität Bremen

gerstner@uni-bremen.de


Redaktion: Constanze Baum – Lukas Büsse – Mark-Georg Dehrmann – Nils Gelker – Markus Malo – Alexander Nebrig – Johannes Schmidt

Diese Ankündigung wurde von H-GERMANISTIK [Nils Gelker] betreut – editorial-germanistik@mail.h-net.msu.edu