CFP: Die Sinne und die Sinnlichkeit. Mittelalterliche Texte und der sensual turn, Paderborn (07.01.2022)

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Die Sinne und die Sinnlichkeit.

Mittelalterliche Texte und der sensual turn.

Interdisziplinärer Workshop

3.-5. Juni 2022, Universität Paderborn

 

Die Annahme einer kulturübergreifenden Konformität körpergebundener Wahrnehmung gehört forschungsperspektivisch der Vergangenheit an. Die ethnologisch ausgerichtete Wissenssoziologie hat mit ihrer Kritik am Euro- sowie Ethnozentrismus nicht nur die Alterität außereuropäischer Körperpraktiken rekonstruiert, sondern auch die Essenzialisierungsstrategien eines strikt positivistisch verfahrenden ethnologischen Reduktionismus zurückgewiesen, die einhergehen mit Annahmen von anthropologischen Konstanten und die bei näherer Betrachtung kaum mehr als anthropologische Mythen sind. Dem Körper kommt dabei eine Schlüsselposition zu. Jede Kultur erzeugt ihre Körper. Körperpraktiken markieren folglich nicht nur transkulturelle Alteritätserfahrungen in Form von Andersheit, sie diversifizieren eine jede Gesellschaft auch intrakulturell entlang von Genderbias und Impairmentzuschreibungen sowie der Bestimmung von ethnischer und religiöser Zugehörigkeit, Altersbildern sowie anderen identitätsstiftenden Kategorien. Gerade die Unterschiedlichkeit jener Philosophien und Ideologien sowie Weltanschauungen, die sich verschiedener Wissenstraditionen, sozialer Machtmechanismen und gesellschaftlicher Normkonventionen bedienen, konstituieren die intrakulturelle Diversität und transkulturelle Andersheit von Körpern und mit ihnen gleichsam die Vorstellungen und Strukturierungen körperzentrierter Sinneswahrnehmung. Im Zuge der Erforschung dieser kulturspezifischen Besonderheiten ist auch die Historizität von Körperpraktiken, körperzentrierter Sinnlichkeit sowie sensualer Wahrnehmung sowohl von Philosoph:innen, Historiker:innen als auch von Literaturwissenschaftler:innen in einem disziplinenübergreifenden sensual turn in den Mittelpunkt von Forschungsinteressen gerückt (vgl. Gaston Bachelard, Michel Serres, Alain Corbin, Constance Classen, Mark M. Smith, Richard G. Newhauser, François Quiviger, Richard Palmer, Holly Dugan, Stephen Mennell, Lowell Gallagher/Shankar Raman, Anne C. Vila, Robert Muchembled, David Howes, Joy Damousi/Paula Hamilton, Robert Jütte, Niklaus Largier). Der Konsens dieser – zur relativ neuen Forschungsrichtung der sensory history zählenden – Arbeiten ist unter anderem die Annahme, dass vormoderne Inszenierungen von Körpern aufgrund ihrer Alterität zugleich alteritäre Sinnlichkeitsmuster sowie Sinneswahrnehmungen hervorbringen

An dieser Stelle setzt der geplante Workshop an mit dem Ziel, Sinnlichkeit als eine Kategorie für unterschiedliche Formen der Relation von Körper und den Sinnen selbst sowie der sinnlichen Erfahrung und des sinnlichen Erlebens in vormodernen literarischen Texten zu diskutieren. Angelehnt an die Ergebnisse der sensory history verstehen wir die Sinne zunächst als körpergebundene Spuren einer Weltzugänglichkeit, die einen Außenbezug eines sinnlichen Wesens auf den es bergenden Raum herstellen. Die Sinne werden in dieser Perspektive überhaupt erst zur Bedingung von Erfahrungsmöglichkeiten schlechthin. Von Interesse sind unterschiedliche literarische Phänomene der visuellen, der taktilen, der auditiven, der olfaktorischen und der gustativen Wahrnehmung. Dabei soll es nicht darum gehen, eine Geschichte der Sinne nachzuzeichnen, sondern vielmehr in einer historischen Perspektive verschiedene Deutungsmuster und Formen der Bedeutungskonstitution im Kontext literarischer Inszenierungen von Sinn(en) und Sinnlichkeit(en) exemplarisch in den Blick zu nehmen.

Aus diesen Überlegungen ergeben sich Fragen, die im Rahmen des geplanten Workshops aufgenommen und erweitert werden können:

  • Wie wird die Relation von Körper und den Sinnen in unterschiedlichen Texten aufgegriffen und modifiziert? Welche narrativen Formen und Funktionalisierungen verbinden sich mit den Inszenierungen sinnlicher Wahrnehmungsoperationen?
  • Welche sinnesbezogenen Differenzierungen und Logiken werden in unterschiedlichen literarischen Texten vorgenommen? Wie lassen sich Relationen zwischen den leiblichen und den inneren Sinnen (imaginatioratiomemoria und intellectus) bestimmen? Wie stehen historisch differente sinnliche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster in verschiedenen literarischen Gattungen im Verhältnis zueinander?
  • Welche Rolle spielen die Erfahrung und das Erleben literarischer Entitäten als mögliche Erkenntniskategorien bei der Inszenierung der Sinnenperzeption? Welche Dimensionen sinnlicher Erfahrung oder sinnlichen Erlebens können dabei differenziert werden? Inwieweit impliziert das Erzählen von Sinnlichkeit Möglichkeiten einer narrativen Subjektreflexion? Welche Rolle spielt dabei die Vorstellung der Subjektivität und der (Un)Verfügbarkeit sinnlichen Erlebens?
  • Wie sind sensuale Vorgänge sprachlich gefasst? Welche rhetorischen Tropen (Metaphern, Metonymien, Vergleiche, Personifizierungen, Theriomorphisierungen) zur sprachlichen Markierung der Sinneswahrnehmung werden in Texten verwendet? Welche sinnlichen Semantiken produzieren die Texte und welche ästhetischen Dimensionen sind mit dem Erzählen von sinnlichem Erleben verknüpft?
  • Welche neuen Impulse und Perspektiven lassen sich aus den Ansätzen der sensory history für die Betrachtung literarischer Erzähltexte gewinnen? Sind Schnittmengen und Spannungsfelder zu anderen theoretisch-methodischen Zugängen in der Mediävistik eruierbar (z.B. Emotions- oder Intersektionalitätsforschung)?
  • Welches Erkenntnispotenzial birgt die Untersuchung von Sinnlichkeit im Hinblick auf literarisch inszenierte (inner)gesellschaftliche Diversitäten (z.B. die kategoriale Interdependenz von ethnischen, geschlechts-, dis/ability-, standes-, alters- und religionsbezogenen Sinnlichkeitsmodellierungen u.ä.)?
  • Welche Perspektive ergibt sich auf die kulturell gestiftete Alterität von Sinnlichkeit bezogen auf nicht-menschliche Akteur:innen?

Diese Aufzählung beansprucht keine Vollständigkeit und formuliert nur Anregungen, sich dem vielseitigen Feld erzählter Sensualität aus verschiedenen Perspektiven zu nähern. Erweiterungen, auch aus an die Literaturwissenschaft angrenzenden Disziplinen, sind willkommen. Themenvorschläge für 25 minütige Vorträge mit einem kurzen Abstract (max. 400 Wörter) werden bis zum 07.01.2022 per Mail an Peter Somogyi und Marie-Luise Musiol erbeten. Beiträge von Nachwuchswissenschaftler:innen sind ausdrücklich erwünscht. Der Workshop ist als Veranstaltung in Präsenz geplant. Eine Veröffentlichung der Beiträge ist vorgesehen.

 

Marie-Luise Musiol
Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft, Universität Paderborn
mlm@mail.uni-paderborn.de

Peter Somogyi
Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft, Universität Paderborn
somogyip@campus.uni-paderborn.de

 

 

Bibliographie (Auswahl)

Gaston Bachelard: Poetik des Raumes. 13. Aufl. (Fischer Wissenschaft 7396). Frankfurt a.M. 2020.

Constance Classen: The deepest sense. A cultural history of touch (Studies in Sensory History). Urbana u.a. 2012.

Alain Corbin: Wunde Sinne. Über die Begierde, den Schrecken und die Ordnung der Zeit im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1993.

Joy Damousi u. Paula Hamilton (Hg.): A cultural history of sound, memory and the senses. London u. New York 2016.

Holly Dugan: The senses in literature. Renaissance poetry and the paradox of perception. In: Herman Roodenburg (Hg.): A cultural history of the senses in the Renaissance (A cultural history of the senses 3). London u.a. 2019. S. 149-167.

Lowell Gallagher u. Shankar Raman (Hg.): Knowing Shakespeare. Senses, embodiment and cognition (Palgrave Shakespeare Studies). New York 2010.

David Howes: Sensual relations. Engaging the senses in culture and social theory. Ann Arbor 2003.

Robert Jütte: Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace. München 2000.

Niklaus Largier: Die Kunst des Begehrens. Über Dekadenz, Sinnlichkeit und Askese. München 2007.

Stephen Mennell: Die Kultivierung des Appetits. Geschichte des Essens vom Mittelalter bis heute. Frankfurt a.M. 1988. 

Robert Muchembled: Smells. A cultural history of odours in early modern times. Cambridge u. Medford 2021.

Richard G. Newhauser (Hg.): A cultural history of the senses in the middle ages (A cultural history of the senses 2). London u.a. 2019.

Richard Palmer: In bad odour. Smell and its significance in medicine from antiquity to the seventeenth century. In: W.F. Bynum u. Roy Porter (Hg.): Medicine and the five senses. Cambridge 1993. S. 61-68.

François Quiviger: The sensory world of Italian Renaissance art. London 2010.

Michel Serres: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische (stw 1389). Frankfurt a.M. 1998.

Mark M. Smith: Sensory History. Oxford u. New York 2007.   

Anne C. Vila (Hg.): A cultural history of the senses in the age of Enlightenment (A cultural history of the senses 4). London u.a. 2019.


Redaktion: Constanze Baum – Lukas Büsse – Mark-Georg Dehrmann – Nils Gelker – Markus Malo – Alexander Nebrig – Johannes Schmidt

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