TAGB: Kulturen der Moral / Moral Cultures, Paderborn (19.-22.09.18)

Kristin Eichhorn Discussion

Kulturen der Moral – Moral Cultures

Internationale und interdisziplinäre Tagung in Kooperation mit der DGEJ vom 19. bis 22. September 2018 an der Universität Paderborn

 

Bericht von Rieke Becker  / Michael Heidgen / Markus Lauert / Verena Witschel

 

 

Kein Begriff ist im 18. Jahrhundert so omnipräsent und mit der Aufklärung so konstitutiv verbunden wie der Begriff der Moral. Seinen diskursiven Stellenwert neu zu bestimmen, indem die Perspektiven verschiedener Disziplinen wie z.B. Geschichts-, Literatur- oder Musikwissenschaft zusammengeführt werden, war Ziel der von der DFG geförderten Tagung „Kulturen der Moral – Moral Cultures“. Sie wurde in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts (DGEJ) vom 19. bis 22. September 2018 von Lothar van Laak und Kristin Eichhorn an der Universität Paderborn ausgerichtet.

Die Frage nach den „Kulturen der Moral“ zielte dabei darauf ab, inwieweit Moral im 18. Jahrhundert eine umfassend lebenspraktische Dimension aufwies und diese in den Diskursen und Künsten gestaltet und reflektiert wurde. Indem es gesellschaftlich zum guten Ton und zur Selbstverständigung gehörte, dass über Moral nicht nur diskutiert, sondern moralisches Verhalten gezeigt und in diesem Sinne gelebt wurde, entstand eine Pluralität von Moralkulturen, die in ihren verschiedenen Bereichen letztlich die Prämissen dessen aushandelte, was Aufklärung im Kern ausmachte.

In seinem Eröffnungsvortrag skizzierte Martin Mulsow am Beispiel des Hofs Sachsen-Gotha, wie das Sprechen von Moral zu den Selbstinszenierungspraktiken der Hofkultur gehörte. Mit Fokus vor allem auf Herzogin Luise Dorothea von Sachsen-Gotha-Altenburg war zu sehen, wie die Auseinandersetzung mit Moralfragen nicht nur zu dem Bildungs- und Erziehungsrepertoire der Zeit gehörte. Vielmehr war das Sprechen über und Argumentieren mit Moral Teil eines informellen Ensembles, das dem formalen Hof- und Herrschaftssetting zur Seite stand. Die Romanistin Claudia Gronemann sprach über männliche Sozialisation durch Literatur und beleuchtete den Zusammenhang zwischen der Herausbildung von Identität und Bildern des Nationalen. Anhand von José Cadalsos Briefroman Cartas Marruecas stellte sie heraus, wie geschlechterspezifische Muster zur Abgrenzung zwischen dem Fremden und dem Eigenen genutzt wurden. Für eine Korrektur bisheriger Forschungsperspektiven plädierte Kristin Eichhorn. Autonomieästhetik und Moraldidaktik seien nicht als zwei sich ausschließende Prinzipien der Literatur zur verstehen. Vielmehr lasse sich mit Blick auf ‚Übergangsautoren‘, wie beispielsweise Gellert und Lessing, nachweisen, dass sich moralisches Anliegen und originäre Ästhetik nicht widersprechen. Aus der Perspektive eines Historikers ging Andreas Pečar der Frage nach, inwiefern das 18. Jahrhundert mit der Rede von einer ‚Pluralität von Moralkulturen‘ angemessen beschrieben ist. Gegen die Vorstellung einer Pluralisierung der Moralkulturen steht der Anspruch der Aufklärer, die Moral, beispielsweise in Form von Menschenrechten, normativ zu universalisieren. In diesem Alleingültigkeitsanspruch, der spätestens im Kontext der Französischen Revolution zur politischen Waffe wird, stehen die Natur- und Vernunftphilosophen durchaus in einem Verwandtschaftsverhältnis zu theokratischen Rigoristen. Laurenz Lütteken zeigte mit seinem Plenarvortrag am Beispiel „Mozart“, wie innerhalb der Musik die (früh-)aufklärerische Forderung nach Wahrscheinlichkeit zunehmend unterlaufen wurde. Vor allem Mozarts Die Zauberflöte, Uraufführung 1791, ist zu nennen, wenn es auf der Handlungs- und Darstellungsebene um das Aussetzen von Wahrscheinlichkeiten geht, ohne dass dabei allerdings in letzter Konsequenz auf eine harmonisierende Lösung am Ende des Stückes verzichtet würde.

Diese fünf Plenarvorträge wurden von Beiträgen in insgesamt sieben Sektionen ergänzt. In der ersten Sektion „Moralkulturen im 18. Jahrhundert“ zeigte zunächst Olga Katharina Schwarz Christian Wolffs Beschäftigung mit der Frage, wie Menschen moralisch erzogen werden können. Daraufhin stellte Clemens Schwaiger fest, dass unser heutiges Verständnis von Moral maßgeblich auf Kant zurückgehe, die Philosophie Christian Wolffs und vor allem ihre Weiterentwicklung durch Alexander Gottlieb Baumgarten indes der elementare Zwischenschritt hin zu Kants Metaphysik der Sitten sei.

In Sektion 2 „Moral, Ethik, Religion“ sprach Marie-Hélène Quéval über die moralischen Wochenzeitschriften Die vernünftigen Tadlerinnen und Der Biedermann, in denen in Anlehnung an die Philosophie Wolffs moralisches Handeln und menschliches Glück nicht christlich, sondern wesentlich aus den antiken Stoikern und aus einer Neubewertung Epikurs hergeleitet wurden. In den Begriff ‚schottische Schule‘ zog Annette Meyer Differenzierungen ein: Einer Verkürzung der schottischen Philosophie auf Common-Sense-Theorien ist durch eine verstärkten Berücksichtigung der Moral-Sense-Schriften entgegenzuwirken. Viliam Štefan Dóci sprach über die Predigten der österreich-ungarischen Dominikaner, die im 18. Jahrhundert ein einflussreiches Kommunikationsmittel waren, und erläuterte das in diesen vermittelte moralische Idealbild zur Beförderung des Wohlergehens des Staates durch das richtige Verhalten des einzelnen Bürgers.

Sektion 3 „Der moralische Staat“ begann mit einem Vortrag von Wolfgang Rother zur italienischen Philosophie der Aufklärung. Rother verdeutlichte, wie in den Schriften von Beccaria und Genovesi das Vertrauen eine wichtige Funktion in der Begründung von Moral übernimmt. Heinrich Bosse stellte den Zusammenhang zwischen Moral und Patriotismus in einem Gegenentwurf zu Reinhart Koselleck über den Aspekt der Menschenliebe her. Jan Hofmann skizzierte das Verhältnis von Glaubens- und Sittenlehre bei J. F. W. Jerusalem. In seiner Auseinandersetzung mit Giacomo Casanova sprach sich A. Jan Kutyłowski dafür aus, die sozialen, ökonomischen und politischen Kontexte von Casanovas ‚Immoralität‘ zu berücksichtigen. Friedrich Frhr. Waitz von Eschen referierte in seinem Vortrag über „Die Dienstmoral des hessischen Salinen-Beamten Franz Ludwig Cancrin“ und fokussierte dabei den Interessenkonflikt zwischen Diensttreue und Freiheit der eigenen Verwirklichung. Carolin Rocks diskutierte in ihrem Vortrag zu Johann Georg Sulzers Kunsttheorie abschließend den Zusammenhang zwischen Kunst und moralischem Staat.

In Sektion 4 „Moralkulturen – zeitlich und topographisch“ sprach Wolfram Malte Fues über die Thérèse philosophe und Toussaints Anti-Thérèse. Conrad Fischer legte in einem Vortrag zu Johann Wilhelm Roses „Pocahontas. Schauspiel mit Gesang“ (1784) dar, wie Rose in seinem Stück zur Pocahontas-Historie aufklärerische Diskurse um Mitleid und Institutionenkritik aufgriff.

Die Sektion 5 „Amoralität als Herausforderung der Moralkultur“ wurde durch zwei Vorträge eröffnet, in denen Sexualmoral im Mittelpunkt stand. Isabelle Stauffer referierte über moralische Passagen in den galanten Texten von Christian Friedrich Hunold. Stauffer zufolge dienten diese Passagen nicht ausschließlich als Lizenz zum Erzählen unmoralischer Liebesverhältnisse, sondern seien multifunktional. Melanie Hillerkus beschäftigte sich im Anschluss mit dem Typus des unzüchtigen Studenten in Gottscheds moralischer Wochenschrift Die vernünftigen Tadlerinnen. Deren männerkritischen und frauenfreundlichen Ton interpretiert sie als Schreibstrategie zur moralischen Disziplinierung beider Geschlechter. Im abschließenden Vortrag von Maurizio Pirro ging es hauptsächlich um die Repräsentation unmoralischen Verhaltens in Johann Elias Schlegels „Canut“, einer Tragödie, in der der unmoralische, ruhmbegierige Antagonist Ulfo als eigentliche Haupt- und Identifikationsfigur für die Rezipienten auftritt.

Die Tagungssektion 6 widmete sich „Moral und Moralkommunikation im Alltagsleben. Der Vortrag von Vera Faßhauer beschäftigte sich mit der Frage, wie unter Berufung auf das antike Vorbild Theophrast gerade die Darstellung des Amoralischen zur moralischen Bildung genutzt werden konnte. Die Verknüpfung von Poetologie und Moral stand im Zentrum des Vortrags von Stephanie Blum. Die frühaufklärerische Kritik an einer allzu schnell gefertigten und gegen Geld produzierten Kasuallyrik verband sich mit einer Poetologie, die ohne den Verweis auf moralische Wertigkeit und Wirksamkeit nicht auszukommen schien. Anschließend zeichnete Sigrid G. Köhler die Strategien der britischen Abolitionsbewegung und deren Umsetzung in Kotzebues Drama Die Negersklaven nach. Die literarischen Möglichkeiten der Totengespräche legte Riccarda Suitner in ihrem Vortrag dar. Małgorzata Kubisiak sprach über die natürliche Moral der Idylle bei Salomon Gessner und Johann Heinrich Voss, während die Vorträge von Tim Zumhof und Dîlan Cakir den Schwerpunkt auf Drama und Theater des 18. Jahrhunderts legten. Ausgehend von der Spannung der theoretischen Wertschätzung des Theaters als moralische Anstalt und dem eher zwiespältigen Ruf der Schauspielergilde untersuchte Zumhof die zeitgenössischen Theaterreformbemühungen. Den Blick hin zur tatsächlichen Aufführungspraxis lenkte der Vortrag Cakirs. Im Fokus standen hier die populären Einakter, die ungefähr ein Viertel der aufgeführten Stücke in Weimar unter Goethe und am Hamburger Nationaltheater ausmachten.

In Sektion 7 „Moral in ästhetischer Theorie, Literatur und Künsten“ sprach Christoph Rauen über Christoph Martin Wielands Die Natur der Dinge (1751). Darauf folgten zwei Vorträge zu Lessing. Hendrikje Johanna Schauer beschäftigte sich mit der Hamburgischen Dramaturgie und der Rolle der Urteilskraft in Lessings Reflexionen zur Tragödie, während Robert Vellusig die Aufwertung des Komischen in der Poetik Lessings erläuterte. Jan Borkowski stellte moralische Applikationen in Romanen von Goethe, Johann Martin Miller und Lafontaine vor. Anschließend thematisierte Kerstin Maria Pahl die Parallelen zwischen literarischen und bildnerischen kleinen Formen in England und zeigte auf, dass Kürze im frühen 18. Jahrhundert als ein Marker von Moralität, vor allem bei Charakterbildern und Portraits fungierte.

An den drei Konferenztagen hat sich die Vielseitigkeit und Ergiebigkeit des Themas für künftige Forschungsperspektiven gezeigt. Die Frage nach der Rolle der Moral bzw. der Profilierung des Moral-Begriffs bleibt ein zentrales Problem der Beschäftigung mit dem 18. Jahrhundert in allen Fachdisziplinen, dessen Diskussion auch über die Tagung hinaus fortgesetzt werden muss.

 

Redaktionelle Betreuung: Alexander Nebrig

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