Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br.
Graduiertenkolleg 1767 Faktuales und fiktionales Erzählen
VerfasserIn: Daniela Henke und Tom Vanassche
Vom 19. bis 21. April fand in Freiburg an der Albert-Ludwigs-Universität (Haus zur Lieben Hand) die internationale Tagung „Ko-Erinnerung. Grenzen, Herausforderungen und Perspektiven des neueren Shoah-Gedenkens“ statt. Organisiert wurde diese von Daniela Henke und Tom Vanassche, Mitglieder des Graduiertenkollegs 1767 „Faktuales und fiktionales Erzählen“ - finanziert von der Deutschen Forschungsgesellschaft. Ziel der Tagung war es, die Möglichkeiten der Ko-Erinnerung historisch, theoretisch und anhand von literarischen und anderen künstlerischen Ausdrucksformen zu eruieren. Inspiriert von Michael Rothbergs Multidirectional Memory (2009) ist darunter ein anerkennendes oder solidarisches Miteinander-Erinnern und -Thematisieren von verschiedenen Formen der strukturellen Gewalt gemeint, wie es auch der vergleichenden Genozidforschung zugrundeliegt, das sich von dem Denken in Opfer-Konkurrenzen und Singularitätsansprüchen absetzt.
Die Ziele und Leitfragen wurden in einem kurzen Einführungsvortrag zu Beginn der Tagung am 19. April des Organisators und der Organisatorin nach einem schematischen historischen Abriss über den Diskurs von vorherrschenden Positionen von der Singularität der Shoah zur Multidirektionalität formuliert.
Als Auftakt der Tagung, sprach Susanne Knittel (Utrecht) in ihrer Keynote über Figures of Comparison in Memory Studies: Singularity, Multidirectionality, Diffraction. Der Vortrag stellte wichtige theoretische Bezugspunkte für die weiteren Diskussionen in den drei Tagen auf. Knittel beschrieb die drei genannten Figuren der Erinnerung als methodische Zugänge zur vergleichenden Forschung und legte ihre Dialogizität in Absetzung zu einer kompetitiven Auslegung dieser dar. Anlehnend an Derek Attridges Kunstverständnis, nach dem Kunst von den bereits vorhandenen kulturellen Rahmen geprägt wird und diese gleichzeitig auch modifiziert, legte Knittel dar, dass uniqueness theoretisch unhaltbar ist. Demnach bedeute die Singularitätsannahme die Absenz bereits vorhandener kultureller Rahmen.
Darauf folgte das erste Panel der Tagung mit zwei Vorträgen. Unter dem bewusst problematisch und problematisierend formulierten Titel des Panels „Die 'anderen Opfer' der Nazis“ analysierte Katrin Schneider-Özbek (Karlsruhe) in ihrem Vortrag Literarische Erinnerung an Vertreibung UND Eugenik: eine moralische Frage? Gegenwartsromane, die die Themen 'Flucht und Vertreibung' mit dem der Euthanasie verbinden. Sie konzentrierte sich dabei insbesondere auf den Roman Sieben Sprünge vom Rand der Welt (2014) von Ulrike Draesner, den sie aus der Perspektive der multidirectional memory nach Michael Rothberg in den Blick nahm. Diskutiert wurden dabei auch Fragen bezüglich der Perpetuierung von Kategorien, die von den Tätern kreiert und zur Legitimation ihrer Verbrechen eingesetzt wurden.
Im Anschluss daran hielt Rüdiger Lautmann (Bremen) seinen Vortrag Engführungen des Erinnerns an die NS-Homosexuellenrepression und an die Shoah und zeigte insbesondere auf, wie sich die Erinnerung an die Verfolgung Homosexueller durch die Nationalsozialisten als vom Shoah-Diskurs unabhängige und getrennte Erinnerungskultur entwickelte. Lautmann zufolge haben sich die Homosexuellen bei der Etablierung ihres Gedenkens eher mit politischen Häftlingen und Zeugen Jehovas identifiziert und solidarisiert als mit den Juden. Aus seinen Ausführungen folgten Fragen zur Eingrenzung des Konzeptes der Ko-Erinnerung auf. Es stelle sich die Frage, ob die Homosexuellenrepression mit der Shoah vergleichbar sein könne oder nur Genozide mit anderen Genoziden. Darüber hinaus zeige die Sprache des Othering, die Euthanasie-Opfer, Sinti und Roma und die Homosexuellen als 'andere Opfer' einordne, die Schwierigkeiten der Sprachfindung beim Ko-Erinnern auf. Durch den Vergleichspunkt der Shoah und der Homosexuellenrepression als nationalsozialistische Menschheitsverbrechen fand Lautmann den Ausdruck des impliziten Ko-Erinnerns, der darauf verweist, dass die Shoah automatisch präsent ist, wenn an andere Opfergruppen der Nationalsozialisten erinnert wird.
Am Freitag, den 20. April wurde die Tagung fortgesetzt mit dem zweiten Panel „Literarische Perspektiven: Vorläufer des Ko-Erinnerns“. Sven Kramer (Lüneburg) begann mit einem Vortrag zu Ko-Erinnerung und Verflechtungsgeschichte in Peter Weiss' 'Ästhetik des Widerstands' und brachte kulturwissenschaftliche Konzepte des Ko-Erinnerns methodisch in Kontakt mit dem geschichtswissenschaftlichen Ansatz der histoire croiseé. Er listete die Verflechtungsfiguren des Romans auf, welche die Shoah unter anderem mit dem Kolonialismus, der Frauenbewegung, dem spanischen Bürgerkrieg und der Homosexuellenverfolgung verbinden. Exponiert würden die Juden wiederum dadurch, dass sie als passive Opfer von der Widerständigkeit, die der Roman thematisiert, exkludiert werden. Gruppenidentitäten entstünden auch durch den Austausch miteinander, was auch die Abgrenzung voneinander impliziere. Neben dieser externen Multidirektionalität kam auch die Interne zur Sprache. So setze Weiss die Fiktionalität ein, um die verschiedenen Phasen der Shoah (Ghetto, Einsatzgruppen, Vernichtungslager) korrelieren zu lassen und so eine Kristallisation zu erreichen.
Danach hielt Catalina Botez (Konstanz) einen Vortrag mit dem Titel Unlosing lost Places in Post-Holocaust Europe. Travel, Anti-Tourism, and Multidirectional Memory in W.G.Sebald's Prose. Sie führte Sebalds Roman Austerlitz als multidirektionale Form des Erinnerns an Shoah und Kolonialismus an und verband diese Erinnerung mit Konzepten des Tourismus und Anti-Tourismus, die der Roman transportiert. Schließlich wurde die Frage aufgeworfen, ob in dem Roman nicht beide Formen ständig in paradoxer Weise auftauchen.
Es folgte das dritte Panel „Räumlichkeit der Erinnerung: Grenzen“. Gunther Martens (Gent) stellte seine Präsentation unter den Titel Alexander Kluge's 'Heidegger auf der Krim' and other ‚counterfactual docufictions.‘ Auch dieser Vortrag war stark von der histoire croisée beeinflusst. Martens‘ These lautet, dass Kluge kontrafaktische Erzählungen einsetzt, die zum einen aktuelle gesellschaftliche Debatten aufgreifen (die polemisch diskutierten Ergebnisse der Wehrmachtausstellung), zum anderen die Shoah und den Zweiten Weltkrieg in breiteren, geopolitischen und ideologischen Kontexten situiert (Imperialismus, aber auch die Rolle des Intellektuellen in und gegenüber dem Staat). Dabei fungiert Kluges kontrafaktischer Heidegger als Kristallisationsfigur unterschiedlicher Diskurse und Ereignisse – ebenso wie Max Aue in Jonathan Littells Les Bienveillantes (2006).
Das vierte Panel vereinigte drei Vorträge zu „Deutschland und Europa in der Gegenwart: Herausforderungen“. Zuerst sprach Johanna Öttl über den jüngsten Roman Norbert Gstreins – Fluchtgegenwart, Vergangenheitsflucht. Zu syrischen Flüchtenden und NS-Erinnerung in Norbert Gstreins 'Die kommenden Jahre'. Die Analyse des Romans stellte insbesondere heraus, dass es für die Flüchtlingsbewegungen der Gegenwart noch keine etablierten narrativen Muster und 'speech genres' gibt, was bei Gstrein unter anderem durch eine fortwährende Distanzierung zum Ausdruck kommt. Öttl wies darauf hin, dass das Sprechen über individuelle Erinnerung auch bei den jüdischen Holocaust-Opfern erst nach dem Eichmann-Prozess möglich war, in dem zum ersten Mal Überlebende im Gerichtssaal aussagten und auf diese Weise verbindende Narrative geprägt wurden.
Anna Brod (Freiburg) hielt anschließend ihren Vortrag mit dem Titel Shoa und NSU-Morde: 'racism past and present': Ko-Erinnerung bei Esther Dischereit über die jüngste Publikation der Autorin Blumen für Otello. Sie begann mit der Feststellung, dass Singularität auch im Zusammenhang der NSU-Debatte ein Schlagwort ist, dem aber eine Kontinuität des Rassismus in Deutschland entgegenstehe, der sich in den 1990er Jahren in Form der Pogrome in Solingen, Mölln und Rostock-Lichtenhagen als mit den NSU-Morden vergleichbare Taten geäußert habe. Dischereit erweitere diese Kontinuität in ihrem Werk bis hin zur Shoah, die sie durch eine dialogische Form des Erinnerns mit den genannten Pogromen und den NSU-Morden in Beziehung setzt. Darüber hinaus führte Brod den Gedanken der Notwendigkeit, diese Form der Ko-Erinnerung zu legitimieren, ein. Bei Dischereit fand sie die Legitimationsstrategien der eigenen Angehörigkeit zum Judentum, dem Einsetzen intertextueller Textverfahren und der Lizenzen, die Fiktionalität inhäriere.
Den Abschluss des Panels und des Tages machten Lea Wohl von Haselberg (Babelsberg) und Hannah Peaceman (Erfurt) mit ihrem gemeinsamen Vortrag, der thematisch an den vorigen anschloss: Ko-Erinnerung im Kontext von Shoah und neonazistischer Gewalt in Deutschland in der Gegenwart. Überlegungen am Beispiel der NSU-Mordserie und des Tribunals 'NSU-Komplex auflösen'. Sie stellten anhand von Beispielen des Tribunals und der 'Anklageschrift' der Organisatoren Hinweise für den strukturellen Rassismus in Deutschland heraus und sprachen über den Antisemitismus der Gegenwart. Zentrale Punkte ihres Vortrags waren die Ausklammerung des nationalsozialistischen Rassismus in der Erinnerungsdebatte und des gegenwärtigen Antisemitismus in aktuellen Diskussionen. Darüber hinaus diskutierten sie das konzeptuelle Verhältnis von Rassismus-Kontinuität und Ko-Erinnerung weiter und beleuchteten, in welcher Weise Shoah-Erinnerung im Hinblick auf die Artikulation von Augenzeugenberichten der NSU-Morde auch zukunftsorientiert ist.
Am Samstag, den 21. April wurde der Vortragsreigen von Verena Arndt (Mainz) fortgesetzt, die unter dem Titel 'Wir sind nicht mehr Inbegriff des Bösen!' - Ko-Erinnerung in Yael Ronens 'Common Ground' – zwischen Aufklärung, Fiktion und Emotion ebendieses Theaterstück vorstellte. In dem Stück spielen die Tochter eines im KZ Ermordeten und die Tochter eines im selben KZ tätigen Kriegsverbrechers sich gegenseitig. Diesen Rollentausch definierte Arndt als „performative Ko-Erinnerung“, die körperlich erfahrbar werde und so Erinnerungskonkurrenzen überwinde. Gefragt wurde nach den gesellschaftlichen Diskursen, die in Deutschland während des Balkankriegs in Bezug zur Kriegsbesatzung und zur zeitgenössischen Auslandspolitik auftauchten, und ob diese im Theaterstück mit reflektiert werden.
Schließlich warfen Urania Milevski (Mainz) und Lena Wetenkamp (Mainz) in ihrem Vortrag Post- und Ko-Erinnerung: Fiktionale Modelle des europäischen Gedächtnisses einen Blick auf einen Korpus von Romanen mit Osteuropa-Thematik, die den Holocaust mit den stalinistischen Zwangsarbeitslager ko-erinnern. Sie diskutierten diese auf der Folie der Postmemory- und der Traumaforschung und plädierten mit ihrem Vortrag dafür, dass Ko-Erinnerung auch die osteuropäische Erweiterung des Gedächtnisses beinhalten müsse. Ihr methodologischer Ansatz war von der kognitiven Narratologie geprägt, mithilfe derer sich die persönlichen Erinnerungsprozesse beschreiben lassen. Diese wurden dann über Traumatheorie und Postmemory mit dem kommunikativen und kulturellen Gedächtnis verknüpft.
In der darauffolgenden Abschlussdiskussion kamen als zentrale Diskussionspunkte die folgenden zur Sprache. Die Formen der Vergleichbarkeit von Genoziden und andere Formen struktureller Gewalt wurden diskutiert und mit dem Ergebnis, dass beim Ko-Erinnern nicht nur der Vergleichspunkt, sondern stets auch die Perspektive des Vergleichs benannt werden müssen. Unterschieden werden kann beispielsweise strukturelle Vergleichbarkeit von Erfahrungsvergleichbarkeit.
Darüber hinaus wurde auf die Notwendigkeit der Schärfung des Ko-Erinnerns und der Unterscheidung seiner verschiedenen Formen und Anleihen bei bestehenden Theorien wie entangled memory, multidirectionality, Verflechtungsgeschichte hingewiesen. Die Beiträge des geplanten Sammelbandes werden sich dieser Aufgabe stellen und ihre Ansätze und Erkenntnisse in ein entsprechendes Verhältnis des allgemeinen Begriffs der Ko-Erinnerung setzen, das Formen des gegenseitig konkurrenzlos anerkennenden, vergleichenden, gemeinsamen und solidarischen Erinnerns umfasst.
Systematisiert werden müssen auch die Ebenen und Institutionen des Ko-Erinnerns, die im Laufe der Tagung disparat auftauchten: Plotstrukturen und Sprache, die literarische Übersetzungspraxis, Körper, Figuren, Darstellungsformen, Forschung.
Kritisch eingegangen wurde auf die Kategorienbildung in Opfer, Überlebende, Betroffene, die immer auch Vorstellungen von Passivität und Aktivität inhärieren und einen statischen Zustand beschreiben.
Des Weiteren wurde die Übertragbarkeit der Sprache, konkreter Narrative, speech genres und Kommunikationsformen diskutiert, was zum Ergebnis führte, dass die Möglichkeit der Anleihe am einzelnen Beispiel je nach Kontext sorgfältig zu prüfen oder zu erproben sei.
Schließlich wurde auch die Rolle der Ethik für die Erinnerungskunst und auch die ko-memoriale Forschung diskutiert, wobei unterschiedliche Positionen zwischen Liberalismus im Sinne von Kunstfreiheit und Freiheit der Forschung und regulativere Ansichten formuliert wurden.
Organisation: Daniela Henke & Tom Vanassche
Programmablauf
Donnerstag, 19. April 2018
14.30 Eröffnung
15.00 KEYNOTE Susanne Knittel (Utrecht): Figures of Comparison in Memory Studies: Singularity, Multidirectionality, Diffraction
Panel I: Die “anderen Opfer” der Nazis
17.00 Katrin Schneider-Özbek (Karlsruhe): Literarische Erinnerung an Vertreibung UND Eugenik: eine moralische Frage?
17.45 Rüdiger Lautmann (Bremen): Engführungen des Erinnerns an die NS-Homosexuellenrepression und an die Shoa
Freitag, 20. April 2018
Panel II: Literarische Perspektiven: Vorläufer der Ko-Erinnerung
10.15 Sven Kramer (Lüneburg): Ko-Erinnerung und Verflechtungsgeschichte in Peter Weiss‘ „Ästhetik des Widerstands“
11.00 Catalina Botez (Konstanz): Unlosing Lost Places in Post-Holocaust Europe. Travel, Anti-Tourism, and Multidirectional Memory in W.G. Sebald’s Prose
Panel III: Räumlichkeit der Erinnerung: Grenzen
14.00 Gunther Martens (Gent): Alexander Kluge’s „Heidegger auf der Krim“ and Felicitas Hoppe’s „Verbrecher und Versager“ between fact, fake, and autofiction
Panel IV: Deutschland und Europa in der Gegenwart: Herausforderungen
15.15 Johanna Öttl (Salzburg): „Fluchtgegenwart, Vergangenheitsflucht. Zu syrischen Flüchtenden und NS-Erinnerung in Norbert Gstreins „Die kommenden Jahre“
16.00 Anna Brod (Freiburg): Shoa und NSU-Morde: „racism past and present“: Ko-Erinnerung bei Esther Dischereit
16.45 Lea Wohl von Haselberg (Babelsberg)/Hannah Peaceman (Erfurt): Ko-Erinnerung im Kontext von Shoah und neonazistischer Gewalt in Deutschland in der Gegenwart. Überlegungen am Beispiel der NSU-Mordserie und des Tribunals „NSU-Komplex auflösen“
Samstag, 21. April 2018
Panel V: Fiktionstheorie und Ko-Erinnerung (Moderation: Christian Baier)
10:00 Verena Arndt (Mainz): „Wir sind nicht mehr der Inbegriff des Bösen!“ – Ko-Erinnerung in Yael Ronens „Common Ground“ – zwischen Aufklärung, Fiktion und Emotion
10:45 Urania Milevski (Mainz)/Lena Wetenkamp (Mainz): Post- und Ko-Erinnerung: Fiktionale Modelle des europäischen Gedächtnisses
13.00-14:00 Abschlussdiskussion
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Redaktion: Constanze Baum – Lukas Büsse – Mark-Georg Dehrmann – Nils Gelker – Markus Malo – Alexander Nebrig – Johannes Schmidt
Diese Ankündigung wurde von H-GERMANISTIK [Lukas Büsse] betreut – editorial-germanistik@mail.h-net.msu.edu
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