KONF: Flucht und Szene - Elemente eines Theaters der Fliehenden

Sylvia Gschwend Discussion

Do – Sa, 7. – 9. Juli 2016
Stadttheater Konstanz, Werkstatt, Inselgasse 2-6

Das aktuelle Theater ist zu einem Auftrittsort für Flüchtlinge geworden. Öffentliche Bühnen
öffnen sich nicht nur den Anliegen der Flüchtlinge, sondern auch diesen selbst und verschaffen
ihnen beim Publikum Gehör. Zahlreiche Theaterprojekte befassen sich mit Fluchtschicksalen
und lassen Einzelne aus der Anonymität der hohen Flüchtlingszahlen hervortreten. Lebens- und
Fluchtgeschichten werden nicht mehr ausschließlich den Behörden vorgetragen, die ihren Fall
nach oft uneinsichtigen Kriterien bearbeiten, sie appellieren auch an die Öffentlichkeit und deren Urteilsfähigkeit. Den intransparenten Entscheidungen der Einwanderungsbehörden sollen auf diesem Weg andere Stimmen und Erzählungen – an einem anderen Ort entgegengehalten
werden. Zugleich wird die fremdenfeindliche Asylpolitik Deutschlands und der Europäischen
Union mit den Realitäten der durch diese geschaffenen Rand- und Transitzonen konfrontiert.
Die Bühne rückt damit in die Reihe jener Orte ein, an denen sich Flüchtlinge vorübergehend
aufhalten, auch sie bildet ein weiteres Provisorium, auf dem diese „temporary protection“
(Terkessides 2005, 83) genießen.
Wird die Bühne hier zum Schauplatz der asylpolitischen Debatte, so bleiben die theatralen
Voraussetzungen, unter denen diese Nutzung erfolgt, jedoch zumeist unbeachtet. In der Regel
bespielen die mit Flüchtlingen arbeitenden Theaterprojekte das Theater, ohne die Verbindungen
aufzuzeigen, die historisch zwischen Bühne und Asyl bestehen. Dagegen sprechen aktuelle
Arbeiten wie etwa Elfriede Jelineks „Die Schutzbefohlenen“ (2014) das Theater selbst wieder in
seiner Funktion als Szene für die fliehend Ankommenden an. Mit ihrer Bearbeitung der Tragödie
„Hiketiden“ – „Die Schutzflehenden“ des Aischylos erinnert sie daran, dass das Theater bereits
in der athenischen Polis als ein provisorischer Raum für Fliehende inszeniert wurde. Theater
und Tragödie fügten sich in ein Gemeinwesen, das sich als Asylort rühmte (Schlesinger 1933,
Traulsen 2004, Gödde 2000, Dreher 2003).
Viele der erhaltenen Tragödien entwerfen die Bühne als einen Ort, auf dem gewaltsam
Dislozierte um Asyl ansuchen. Dabei orientieren sie sich einerseits am sakralen Asyl, indem die Protagonisten an Altären Zuflucht suchen, andererseits am Recht der Städte, Fliehenden,
ungeachtet ihrer Schuld oder Unschuld, Unverletzlichkeit und Aufenthalt zu gewähren (Vgl.
Dreher 2003, 59). In Aischylos „Hiketiden“ fliehen die Töchter des Danaos vor der
Zwangsverheiratung mit den Söhnen des Aigyptus und flehen um Bleiberecht in der von
Blutsverwandten regierten Stadt Argos. In Euripides‘ „Herakliden“ sind es die Kinder des
Herakles, die den Häschern des Eurystheus entkommen wollen und Athen um Aufnahme bitten.
Durch ihre fliehende Ankunft als Fremde erzeugen sie einen Ausnahmezustand, in dem sie ihre
Sache vor den Augen eines Publikums vortragen, vertreten und verteidigen können, während
das Publikum in den Zeugenstand rückt und selbst in den Agon eintritt, indem es über das
Stück urteilt. Die Gattung der Tragödie partizipierte damit an einer Politik, die die Aufnahme von Schutzsuchenden in ihrer Agenda führte. Zugespitzt formuliert kann wie das theatrale Geschehen die dramatische Handlung auch über den jeweiligen Mythos hinaus mit einer
Asylverhandlung, der dramatische Dialog mit einem um die Frage von Bleiben oder Gehen
kreisenden Agon und die finale tragische Entscheidung mit der Frage von Fliehen oder Bleiben
in Zusammenhang gebracht werden.
Die Tagung möchte dieses Fundament der europäischen Theatergeschichte sichtbar
machen. Sie geht von der Annahme aus, dass die Bühne selbst als temporärer Zwischenraum
für die fliehend Ankommenden und ihrer Selbstexposition beschrieben werden kann, der sich
immer wieder neu und anders konstituiert. Anknüpfend an Thesen von Cornelia Vismann in
ihrem 2006 erschienenen Aufsatz „Das Drama des Entscheidens“ kann das befristeten
Innehalten von Fliehenden als ein Gründungsmoment der Tragödie gedacht werden (Vgl.
Vismann 2006).Damit soll eine historisch und formsemantisch geschärfte Perspektive auf jene
theatralen bzw. dramatischen Anordnungen entwickelt werden, die einen Zusammenhang
zwischen Theaterraum und Asylie, zwischen Drama und Aufnahmeverfahren nahelegen.
Die Tagung gliedert sich in vier Sektionen. Zwei behandeln das Thema eher in historischer, zwei in eher systematischer Hinsicht.

Programm:

Donnerstag, 7. Juli

14.00 Uhr: Eröffnung. Bettine Menke, Juliane Vogel

I. FLUCHT UND SZENE IN DER ANTIKEN TRAGÖDIE UND IM AUSGANG VON DIESER
Moderation: Juliane Vogel
14:30 Uhr Susanne Gödde: Asyl als Übergang: Transiträume in der griechischen Tragödie
15:30 Uhr Winfried Schmitz: Die Schutzflehenden des Aischylos und das Asyl im klassischen Athen
16:30 Uhr Kaffeepause

Moderation: Friedrich Balke
17:00 Uhr Rüdiger Campe: Flucht und Fürsprache in Aischylos' Eumeniden
18:00 Uhr Pause
18:30 Uhr Hans-Thies Lehmann: Abenvortrag: "Entscheiden für das Asyl". Affekt und Denken in Aischylos' "Schutzflehenden" und Jelineks "Schutzbefohlenen"
20:00 Uhr Abendessen


Freitag, 8. Juli

9:30 Uhr Christopher Wild: Davonkommen. Aus Troja und anderwo
10:30 Uhr Kaffeepause

II. TRANSFORMATIONEN VON FLUCHT UND SZENE
Moderation: Ulrike Sprenger
11:00 Uhr Christina Wald: „Traitorous innovator“: Shakespeares Coriolanus als Tragödie der Verbannung und Rückkehr
12:00 Uhr Katrin Trüstedt: Speak not you for him: Stellvertretung auf derTheater-Insel der Gestrandeten
13:00 Uhr Mittagspause

Moderation: Juliane Vogel
14:30 Uhr Bettine Menke: Agon und Theater. Fluchtwege: die Sch(n)eidung und die Szene (zu und nach den aitiologischen Fiktionen F.C. Rangs und W, Benjamin)
15:30 Uhr Nikolaus Müller-Schöll: Fluchtpunkt Theater. Theaterflucht (Zu Brecht)
16:30 Uhr Kaffeepause

III. ZWISCHENRÄUMLICHKEIT
Moderation: Stefanie Diekmann
17:00 Uhr Ulrike Haß: Flüchtige Konfigurationen
18:00 Uhr Jörn Etzold: Bühne und Lager
20:00 Uhr Abendessen

Samstag, 9. Juli

IV. FLUCHT UND AUFTRITT
Moderation: Bettine Menke
10:00 Uhr Martin Schäfer, Ewelina Benbenek: Flucht und die Hamburger Bühnen nach 2013
11:00 Uhr Evelyn Annuß: Panorama und Banopticon
12:00 Uhr Abschluss
ca. 13:00 Uhr Ende der Tagung

Organisatorinnen: Bettine Menke, Juliane Vogel
Internetadresse https://www.exzellenzcluster.uni-konstanz.de/54.html?&L=ncefwlhlbwc&cH...
Veranstaltungsort Stadttheater Konstanz, Werkstatt, Inselgasse 2-6
Beginn 07.07.0016
Ende 09.07.0016
Person Name: Menke, Bettine
Funktion: Organisatorin
E-Mail: bettine.menke@uni-konstanz.de
Name: Vogel, Juliane
Funktion: Organisatorin
E-Mail: juliane.vogel@uni-konstanz.de
Kontaktdaten Name/Institution: Exzellenzcluster Kulturelle Grundlagen von Integration, Universität Konstanz
Strasse/Postfach: Fach 173
Postleitzahl: 78457
Stadt: Konstanz
Land Deutschland

 

Diese Ankündigung wurde von H-GERMANISTIK [Alexander Nebrig] betreut – editorial-germanistik@mail.h-net.msu.edu