CFP: Wolfgang Hilbig. Die Sprachen eines Feuerfressers (15.06.2023)
Call for Papers
Wolfgang Hilbig. Die Sprachen eines Feuerfressers, monographische Nummer von der Zeitschrift «CoSMo – Comparative Studies in Modernism» , 25 (Dezember 2024), herausgegeben von Massimo Bonifazio, Daniela Nelva, Michele Sisto und Bénédicte Terrisse
Wolfgang Hilbig befindet sich nie, wo er sein sollte. Sein Werk und seine Biographie kritisch anzuschauen bedeutet, sich in einer ständigen Situation der Desorientierung zu befinden: mit der irritierenden Ungenauigkeit einer absoluten Metapher verweisen das Leben und die Literatur des sächsischen Dichters immer auf ein mysteriöses Anderswo. Die Gewalt der Geschichte – sei es die deutsche Vergangenheit oder der schwüle DDR-Alltag – verwebt sich in seinen Texten mit existentiellen Gespenstern wie das verheerende Gefühl nicht vorhanden zu sein, die aus familiären Traumata und aus der fehlenden Anerkennung seiner Bestrebungen im literarischen Feld kommen. Der Masochismus seiner Figuren, ihre Neigung zur Selbstverleumdung und zur Identifikation mit dem Schmutzigen und dem Ekelhaften – dem Abfall wie den verschmutzten Landschaften oder der Stasi – sprechen ex negativo von seinem Wunsch nach einer in der realexistierenden Welt unmöglichen Schönheit. Auch in den lyrischen Texten wird eine undurchführbare Versöhnung zwischen Sprache und Gewalt der Geschichte versucht: zum Beispiel mittels blendender Epiphanien wie der grüne Fasan des berühmten Gedichtes “Episode” (Werke I, 79) oder der verseuchte Fluß in dem Ophelia nicht umhin kann, wieder und wieder zu ertrinken (74).
Für Hilbig und seine Protagonisten scheint die Literatur einen Fluchtweg aus der krassen Sinnlosigkeit zu sein, die sie umringt. Erst durch die Pracht einer schändlichen und gleichzeitig höchstraffinierten Sprache scheint es für sie möglich, endlich eine bewohnbare Wirklichkeit bauen zu können. Das Kaliber dieser Sprache stammt aus der Intensität, mit der Hilbig sich die moderne Europäische literarische Tradition angeeignet hat, von Rimbaud zu Kafka, von Pound zu Chlebnikow, von Joyce zu den deutschen Expressionisten. Aber Verwirrung herrscht auch hier: es ist kompliziert, Hilbig einen genauen Platz zuzuweisen und festzustellen, ob seine Aneignung der literarischen Moderne eine Errungenschaft ist (in dem tendenziell stickigen Raum des DDR-Kulturapparats), oder aber ein im Grunde genommen rückläufiger und anachronistischer literarischer Habitus. Was bleibt ist das Erstaunen vor einer zerrissenen und schmerzhaften Sprache, die die Ich-Krise am Kreuzweg der Epochen und der inneren Verfassungen beschwört und bekräftigt.
Seit immer hat die Kritik Schwierigkeiten, Hilbig in den literarischen Landkarten seiner Zeit zu verorten – zwischen DDR- und Dissidentenliteratur der Emigrierten, der Ostmoderne des wiedervereinigten Deutschlands, den letzten Ausläufern des Expressionismus oder dem Modernismus des 20. Jahrhunderts, der Sozialpoesie in der Tradition eines Rimbauds usw. – und damit ihm einen genauen Platz in dem literarischen Kanon des 20. Jahrhunderts zuzuweisen. Deswegen ist es notwendig, die Forschung nach Hilbigs Vorkommen in den deutschsprachigen sowie internationalen literarischen Konstellationen weiter auszuarbeiten. Es gilt, Hilbigs Leserepertoire, seine persönlichen Bezüge zu zeitgenössischen Autoren, die Anwesenheit seiner Texte in der Schreibpraxis von deutschen und internationalen Dichtern und Schriftstellern zu rekonstruieren.
Die Zeitschrift “CoSMo – COmparative Studies in MOdernism”, herausgegeben von dem Studiumzentrum “Arti della modernità” (Künste der Moderne) von der Universität Turin, wird Wolfgang Hilbig eine monographische Nummer widmen. Sie wird die Beiträge der Turiner Tagung “Die Sprachen eines Feuerfressers” sammeln, die im Dezember 2019 stattfand und die Rezeption des Schriftstellers als Thema hatte. Die Herausgeber möchten aber das Spektrum der Hilbig-Forschung erweitern; deswegen sollte auch andere in CoSMo enthaltene Beiträge – am Beispiel der zwei von Stephan Pabst, Bernard Banoun, Sylvie Arlaud e Bénédicte Terrisse herausgegebenen Bänden Wolfgang Hilbig und die (ganze) Moderne und Wolfgang Hilbigs Lyrik – die “Werkexpedition” weiterführen, um bislang unerforschte Zonen des Werks und der Biografie Hilbig zu untersuchen, womöglich (aber nicht ausschließlich) in den hier unten angegebenen Richtungen:
– Hilbigs Beziehungen mit zeitgenössischen und vorherigen literarischen Mustern (implizite und explizite Verweise, kritische Reflexionen…);
– direkte Beziehungen mit Partnern im literarischen Feld (Verlage, andere AutorInnen, literarische Institutionen…);
– Rezeption der Werke auf literarischem (z. B. wer hat sie übersetzt, wo, warum) und kritisch-akademischem Niveau;
– Stellung in dem Kanon der verschiedenen Literaturen;
– Rezeption von Hilbigs Schreibweisen durch andere AutorInnen, vor allem in anderen Sprachen;
– Interpretationen von einzelnen Werken (einschließlich Gedichte und Erzählungen).
Für die Teilnahme mit einem Beitrag auf deutscher, englischer, französischer oder italienischer Sprache bitten wir bis zum 15. Juni 2023 um die Einsendung von Abstracts (max. 300 Wörter), die auf diese Themenbereiche sowie Fragestellungen eingehen, einschl. Titel und Kurzbiografie und institutioneller Verankerung an Massimo Bonifazio (massimo.bonifazio@unito.it). Bis zum 30. Juni werden die Herausgeber eine Entscheidung über die publizierbaren Beiträge treffen. Die fertiggestellten Beiträge (30.000-50.000 Anschläge) sollen bis zum 31. Dezember 2023 vorliegen und werden einem double blind peer review-Verfahren unterzogen. Die Publikation ist im Dezember 2024 vorgesehen.
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