Interdisziplinäre Tagung an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
29./30. März 2023
Das Panorama – die Alles-Sicht – zielt ab auf eine Maximalform von Wahrnehmung und Wirklichkeitsbewältigung. Es entspricht dem Wunsch, den (Wissens-)Raum zu umspannen: in der Überbreite das Gleichzeitige zu erzählen oder im Fries das historische Nacheinander zu überblicken. Das Panorama entrahmt das Bild, übersteigt das Blickfeld und fordert auf zur visuellen Drehbewegung (Rundumpanorama, 360-Grad-Schwenk), Seitwärtsfahrt (Schriftrolle, Zugfenster) sowie zum Auf- und Abstieg (Gipfel, Ballon).
Im Panorama liegen Spannung und Widerspruch: Das Diverse soll in eine Einheit gebannt werden. Es konkurrieren Simultaneität und Linearität, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Freiheit und Kontrolle, Wissen und Ohnmacht, Hybris und Scheitern. Das Aufkommen der Disziplinargesellschaften beförderte den Panoramablick und die Panoramen des 19. Jahrhunderts boten als frühe Massenmedien und Vorläufer des Kinos Stadt- und Weltaneignung als Spektakel an. Bis heute schickt das Panorama den Blick auf Reisen und holt die Welt in den Blick: in Malerei, Theater, Fotografie, Film und Kartografie, in synoptischen Diagrammen, Wimmelbildern, Open-World-Computerspielen und der Immersion der VR-Brille. Das Panorama dient als Modell für den epistemologischen Anspruch der Neuzeit, das modernistische Erzählen in der Literatur und die Kompilationen globaler News in Zeitung und TV-Magazin.
Die Tagung widmet sich im Rückblick den kulturgeschichtlichen Traditionen des Panoramatischen und im Seitenblick der jeweiligen Bedeutung in den verschiedenen Disziplinen, um die vielfach weitgehend unvermittelten Panorama-Konzepte in den Künsten, Fächern und Lebenswelten ihrerseits in einem Panorama anzusiedeln, das sie möglichst präzise unterscheiden und schlüssig verknüpfen soll. Aus der fächerübergreifenden Anlage eines solchen Panoramen-Panoramas erwüchse zudem die Chance, sich dem Desiderat einer allgemeinen Panorama-Theorie zu nähern: der Frage nach dem gemeinsamen Erfahrungskorrelat und Begehrenskern von Panorama-Produktion und -Rezeption, dem genuin Panoramatischen.
Organisation:
Roman Mauer, Filmwissenschaft
Johannes Ullmaier, Germanistik
Clara Wörsdörfer, Kunstgeschichte
Ort: Johannes Gutenberg-Universität, Mainz, Hörsaal 02-521 im Georg Forster-Gebäude.
Die Tagung ist öffentlich.
Website: https://www.kunstgeschichte.uni-mainz.de/allesimblick/
Gefördert durch das Zentrum für Frankreich- und Frankophoniestudien (ZFF) / Deutsch-Französische Kulturstiftung sowie die Inneruniversitäre Forschungsförderung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Programm:
Mittwoch, 29. März 2023
13.00–13.30 Uhr: Einführung (Roman Mauer, Johannes Ullmaier, Clara Wörsdörfer)
13.30–15.00 Uhr: Panoramatisches Begehren
David Kuchenbuch (Gießen): Allschau-Medien für Alle. Zum panoramatischen Begehren bei Arno Peters und Richard Buckminster Fuller
Johannes Ullmaier (Mainz): Panoramatik als Prozess. Zur Mediendynamik von Allschau-Ideal und Panorama-Wirklichkeit
15.30–17.00 Uhr: Panoramatik und Leiblichkeit
Oksana Bulgakowa (Berlin): Welchen Körper hat der panoramatische Blick? Hypothesen des sowjetischen Film-Auges (von Vertov bis Tarkovskij)
Annika Wehrle (Mainz): Beobachtungen von Oben? Szenen des Übersehens und Überblickens
17.30–19.00 Uhr: Rund – Bau – Blick
Salvatore Pisani (Paris/Mainz): Rundbild und Rotunde. Das Panorama als komplexes mediales Environment
Laura Katharina Mücke (Mainz): Consequences of „The Innocent Eye Test“.“ Unschuldige“, „ungeübte“, unkontrollierbare (respektive: weibliche*) Blicke aufs Panorama
Donnerstag, 30. März 2023
09.00–10.30 Uhr: Kartographie und Diagrammatik der Allschau
Elisabeth Sommerlad (Mainz) / Roman Mauer (Mainz): Panoramen der Zukunft. Filmkartographischer Blick auf Stadtentwürfe in Science-Fiction-Filmen
Stefan Günzel (Berlin): Diagrammatik der Allschau. Zur Dialektik von Relation und Totalität
10.45–12.15 Uhr: Erweiterte Welten
Gregor Wedekind (Mainz): Das Nahe und das Ferne. Panoramatische Bildkonzepte der Romantik
Marc Bonner (Köln/Saarbrücken): „Weltaugenblick“ durch Prospect Pacing: Zu den medienspezifischen Panorama-Situationen in den nichtlinearen, Weite suggerierenden Landschaften der Open-World-Spiele
13.00–14.30 Uhr: Wimmelbilder und Epochenbilder
Clara Wörsdörfer (Mainz): Alle in Aktion. Panorama und Wimmelbild
Philip Iser (Bonn): Literarische Panoramen zwischen Überbreite und Übersicht. Zur Narratologie der Mehrsträngigkeit in epischen Epochenbildern (Gutzkow, Döblin)
15.00–16.30 Uhr: Teil(e) des Ganzen
Fabian Röderer (London/Hamburg): Vom panoramatischen Ausstellungsdisplay zum panoramatischen Ausstellungsnarrativ. Fotoausstellungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Matthias Wittmann (Basel/Zürich): La Région Centrale. Zur Geopolitik der 360°-Bubble-Ästhetik
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