CFP: Identitätsboom in der Gegenwartsliteratur: Erfahrung, Repräsentation, Identifizierung | (15.11.2022)
Frauenliteratur, Migrationsliteratur, jüdische Literatur, Arbeiter*innenliteratur, homosexuelle Literatur: Als ‚Randgruppen‘-Genres begleiten solche kleinen Literaturen die Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Gegenwärtig wachsen Zahl und Auflage von Texten, die die Lebens- und Erfahrungswelten marginalisierter Gruppen zum Thema haben, so stark, dass sie sich kaum mehr in Sparten einordnen und vom ‚großen‘ Literaturbetrieb abgrenzen lassen. Romane wie bspw. Lin Hierses Wovon wir träumen (2022) oder Anke Stellings Schäfchen im Trockenen (2018) erzählen dabei realistisch und aus der Perspektive der ersten Person, die zumeist autobiographisch verbürgt ist. Sie weisen damit eine Nähe zu – ebenfalls verkaufskräftigen – essayistischen Texten wie Mely Kiyaks Frausein (2020) oder Carolin Emckes Wie wir begehren (2012) auf. Während diese ‚Erfahrungsliteratur‘ derzeit einem Bedürfnis der Leser*innenschaft nachzukommen scheint, fordert sie die Institutionen professionellen Lesens doch heraus: Die Literaturkritik tut sich teils schwer, ihre ästhetische Qualität zu bewerten (Franzen 2019), und es wurde der Vorwurf laut, dass sie aufgrund ihrer Einladung zur Identifizierung das kritische Lesen bedrohe (Baßler 2021).
Die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit solchen Texten hat besondere Brisanz vor dem Hintergrund anhaltender identitätspolitischer Debatten. In Diskussionen beispielsweise um die Übersetzung von Amanda Gormans Gedicht The Hill We Climb zeigt sich, dass die gesellschaftliche Situierung von Kunstschaffenden für ästhetische Bewertungen zunehmend an Bedeutung gewinnt. Gleichzeitig scheinen die Fronten in den Auseinandersetzungen verhärtet: entweder werden Identitätskategorien verabsolutiert oder aber ihre Relevanz reflexartig zurückgewiesen. Statt sich auf eine Seite zu schlagen, gilt es hier, das Problemfeld auszudifferenzieren und seine internen Spannungen zu konturieren. Die fokussierten Texte sind dabei insofern instruktiv, als sie den Standort ihrer Protagonist*innen – als Frauen, Schwarze Person, trans* Person oder Bildungsaufsteiger*in – explizit markieren. Als ‚Identitätsliteratur‘ stellen sie so einerseits erneut die Frage nach der Relevanz von Kategorien wie Geschlecht, Hautfarbe, Klasse etc. Ausgehend von ihrem Bestehen auf Differenz liefern sie andererseits konkrete Vorschläge, wie das Verhältnis von Partikularität und Universalität, Identität und Alterität gefasst werden kann.
Die Special Collection „Identitätsboom in der Gegenwartsliteratur“, die Annika Klanke und Stephanie Marx in der referierten Open-Access-Zeitschrift Genealogy+Critique herausgeben, ist der Auseinandersetzung mit neuesten Erfahrungs- und Identitätsliteraturen gewidmet, die gegenwärtige Prozesse gesellschaftlicher Ausdifferenzierung begleiten. Dazu laden wir zur Einsendung von Abstracts ein und schlagen eine Perspektivierung der Lektüren über die Kategorien Erfahrung, Repräsentation oder Identifizierung vor:
- Erfahrung: Die Kategorie der Erfahrung ist im 20. Jahrhundert vielfach für die Etablierung einer literarischen Gegenöffentlichkeit mobilisiert worden, beispielsweise in der Arbeiter*innenliteratur oder der Literatur der Zweiten Frauenbewegung. Diese Texte zeichnen sich, ähnlich wie die gegenwärtige Literaturproduktion, durch die Selbstthematisierung eines schreibenden Ichs, die Nähe bzw. den Zusammenfall von Autor*in und Text-Ich oder auch die Authentifizierung des Geschriebenen durch verschiedene Referentialisierungsstrategien aus. Welche Funktionen und welchen Stellenwert hat die literarische (Re-)Produktion von Erfahrung gegenwärtig? Welchen Ästhetiken folgt deren Darstellung? Welche Genres bieten sich besonders an und warum? Welche Verschiebungen literarisch-literarturwissenschaftlich etablierter Autor*innenschaftskonzepte provozieren gegenwärtige Identitäts- und Erfahrungsliteraturen?
- Repräsentation: Die Gegenwartsliteratur zeichnet sich durch eine Diversität an gezeigten Lebens- und Erfahrungswelten aus. Indem sie literarisch repräsentiert werden, wird die Sichtbarkeit gemeinhin marginalisierter Gruppen erhöht und die Spezifität ihrer Lebenswelten anerkannt. In literarischen Texten werden darüber hinaus Beziehungsweisen zum Selbst und zu anderen entworfen, Möglichkeiten eines ‚lebbaren‘ Lebens erkundet und Lebensästhetiken zur Disposition gestellt. Die Texte prägen auf diese Weise aber auch kulturelle Vorstellungen davon, was es z.B. heißt, Schwarz oder trans* zu sein. Welche Vereindeutigungen, Verengungen oder (strategischen?) Essentialisierungen lassen sich in diesem Zusammenhang beobachten?
- Identifizierung: Aufgrund ihrer detaillierten Darstellung von Subjektivierungsweisen machen gegenwärtige Erfahrungs- und Identitätsliteraturen ein Erleben greifbar, das zuvor weder Gegenstand öffentlicher Diskurse noch als Effekt gesellschaftlicher Situiertheit anerkennbar war. Indem sich Leser*innen in den Romanen und Essays ‚wiederfinden‘, verhelfen diese zu einer Entprivatisierung bestimmter Affekte und Emotionen. Zugleich ermöglichen die Texte Alteritätserfahrungen und können dadurch ‚Empathielücken‘ schließen. Die Kehrseite solcher identifikatorischer Potentiale sind rein affirmative Lektürehaltungen oder die Verabsolutierung von Differenz und Partikularität. Welche Lesestrategien legen die Texte diesbezüglich, beispielsweise durch Homogenisierungen oder gebrochene Erzählweisen, nahe?
Abstracts in deutscher oder englischer Sprache und im Umfang von maximal einer Seite sind auf Deutsch oder Englisch bitte bis zum 15. November 2022 an Annika Klanke (annika.klanke@uni-bielefeld.de) und Stephanie Marx (marx@genealogy-critique.net) zu senden. Die Autor*innen erhalten bis Anfang Dezember eine Zu- oder Absage. Die ausgearbeiteten Beiträge sollen bis spätestens Ende März 2023 vorliegen. Sie durchlaufen dann ein Begutachtungsverfahren (peer review) und erscheinen bei positivem Ausgang noch im Lauf des Jahres 2023.
Genealogy+Critique (genealogy-critique.net) ist eine referierte Open-Access-Zeitschrift, die von der Londoner Open Library of Humanities publiziert wird – einem von Wissenschaftler*innen geführten, gemeinnützigen Open-Access-Verlag, der keine Publikationsgebühren von Autor*innen erhebt. Sie ist interdisziplinär ausgerichtet und zielt darauf ab, historisch-genealogische und kritische Theorieansätze mit Konzepten und Methoden aus unterschiedlichen kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen zu verbinden. Alle in G+C veröffentlichten Beiträge durchlaufen ein Peer-Review-Verfahren, sind unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY frei verfügbar, werden u.a. im Directory of Open Access Journal indexiert und langfristig in HTML, PDF und XML archiviert.
Identity Boom in Contemporary Literature: Experience, Representation, Identification
Women’s literature, migrant literature, Jewish literature, proletarian literature, homosexual literature: as ‘marginalised group’ genres, ‘minor literatures’ such as these form an integral part of 20th-century literary history. By now, texts that thematise the lives and experiences of marginalised groups are growing so rapidly in number and circulation that they can hardly be compartmentalised or demarcated from the ‘major’ literatures of mainstream publishing anymore. Novels such as Lin Hierse’s Wovon wir träumen (What We Dream Of) (2022) or Anke Stelling’s Higher Ground (2021) utilise realistic modes of narration and first-person narrators who are at least partially autobiographical. Such novels thus exhibit an affinity to essayistic texts – another hot genre – such as Mely Kiyak's Frausein (On Being Woman) (2020) or Carolin Emcke's How We Desire (2019). Yet although this ‘experiential literature’ appears to fulfil a current need among readers, especially in the German speaking literary scene, it presents a challenge to the institutions of professional reading: Literary criticism sometimes finds it difficult to evaluate its aesthetic quality (Franzen 2019), and the accusation was made that its invitation to identify threatens critical reading (Baßler 2021).
Scholarly engagement with such texts assumes a particular relevance against the background of ongoing debates about identity politics. Discussions such as those surrounding the German translation of Amanda Gorman’s poem The Hill We Climb have revealed that the social position of artists is increasingly becoming viewed as important to aesthetic evaluations of their work. At the same time, the opposing camps in these disputes appear to have grown entrenched: Either identity categories are absolutised, or their relevance is reflexively denied. Instead of staking out a position in one of these camps, what is now called for is a nuanced account of the interconnected problems and their internal tensions. In this regard, contemporary texts that explicitly indicate their protagonists’ positions – as women, as Black people, as trans* people or as the first people in their families to pursue higher education – can be instructive. On the one hand, as ‘identity literature’, they prompt us to again question relevance of categories such as gender, skin colour, class, and so on. On the other hand, through their insistence on difference, they present concrete suggestions of how to comprehend the relationship between particularity and universality, between identity and alterity.
Identity Boom in Contemporary Literature, an anthology to be edited by Annika Klanke, and Stephanie Marx and published as a special issue of the peer-reviewed, open-access journal Genealogy+Critique, seeks to engage with the newest works of experiential literature and identity literature accompanying contemporary processes of social differentiation. We are now accepting abstracts for contributions, particularly for those that examine literature through the categories of experience, representation, and/or identification:
- Experience: The category of experience was extensively mobilised in the 20th century to establish a literary counter-public. This mobilisation is evident in proletarian literature or the literature of second-wave feminism. Similar to contemporary literary production, texts in these categories are distinguished by the self-thematisation of a first-person narrator, the closeness or coextensivity between author and textual narrator and/or the use of various referencing strategies to authenticate the written word. What is the function and significance of the literary (re)production of experience today? Which aesthetics does this representation pursue? Which genres are particularly conducive to it and why? Which shifts in established literary and scholarly concepts of authorship have prompted contemporary identity literature and experiential literature?
- Representation: Contemporary literature is distinguished by its portrayal of diverse lives and experiences. Through literary representation, the visibility of generally marginalised groups is increased and the specificity of their lifeworlds recognised. Yet the function of this literary representation transcends visibility and recognition: In literary texts, modes of relating to oneself and to others are outlined, possibilities of a ‘livable’ life explored, and aesthetics of life presented for consideration. In this way, texts can also influence cultural conceptions of what it means to be, for example, Black or trans*. Which disambiguations, narrowings or (strategic?) essentialisations can be observed in this context?
- Identification: Due to their detailed portrayal of modes of subjectivation, contemporary experiential literature and identity literature make it possible to grasp experiences that were neither topics of public discourses nor identifiable as effects of social positionality. Insofar as readers ‘find themselves’ in novels and essays, these texts facilitate a de-privatisation of particular affects and emotions. Likewise, they enable experiences of alterity and can close ‘empathy gaps’. Yet such potentialities of identification can also encourage purely affirmative attitudes towards texts or absolutisations of difference and particularity. Which reading strategies do texts suggest, and how are these strategies suggested (for example, through homogenisations or broken narrative modes)?
Please submit abstracts in German or English of no longer than one page by 15 November 2022 to Annika Klanke (annika.klanke@uni-bielefeld.de) and Stephanie Marx (marx@genealogy-critique.net). Authors will receive notifications of acceptance or rejection by early December. Articles must be completed by the end of March 2023. Pending a positive peer review, they will be published later in 2023.
Genealogy+Critique (genealogy-critique.net) is a peer-reviewed, open-access journal published by the London-based Open Library of Humanities – a non-profit open-access publishing house that does not charge any author fees. The journal is interdisciplinary in orientation and aims to connect historical-genealogical and critical approaches to theory with concepts and methods from different humanities and social science disciplines. All articles published in G+C undergo peer review, are freely available under the Creative Commons license CC BY, are indexed among other places in the Directory of Open Access Journals and are permanently archived in HTML, PDF and XML.
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Redaktion: Constanze Baum – Lukas Büsse – Mark-Georg Dehrmann – Nils Gelker – Markus Malo – Alexander Nebrig – Johannes Schmidt
Diese Ankündigung wurde von H-GERMANISTIK [Lukas Büsse] betreut – editorial-germanistik@mail.h-net.msu.edu
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