DDR-Literatur.
Leben und Nachleben offener Transformationsprozesse
Workshop an der Universität Bonn (6./7. Juli 2022)
Veranstalter:innen: Prof. Dr. Kerstin Stüssel und Dr. Michael Neumann (Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft, Universität Bonn)
Kontakt: Philip Iser (iser@uni-bonn.de)
Als der Kunstkritiker Eduard Beaucamp 1966 in die DDR reiste, um die Arbeiten der dortigen Kunstszene in Augenschein zu nehmen, war sein Fazit ernüchternd: „Weder das neue Menschenbild noch die neue Kunst wurde gefunden […].“ Wenige Jahre später revidierte Beaucamp seine utopische Enttäuschung nach der Entdeckung eines „neuen phantastischen Realismus“ bei den Malern der Leipziger Schule (für ihn verkörpert in der Hauptsache durch Werner Tübke). Besonders bemerkenswert an dieser Verschiebung sind die Implikationen, die sie im Blick auf den Akt der kritischen Vermittlung selber freisetzt. Nachdem zunächst vom Kritiker konstatiert worden ist, dass die DDR-Kunst die offiziell verlautbarten menschheitsgeschichtlichen Ansprüche nicht eingelöst habe, wird kurze Zeit darauf in der entlegenen Provinz ein „phantastische[r] Realismus“ entdeckt, dessen Möglichkeiten sich gegen die Normen und Regeln der westlichen Kunstproduktion profilieren lassen. Unschwer zu sehen, dass die Kunstkritik im Spiegel ihrer Gegenstände auch den eigenen zeitdiagnostischen Kompetenzen markante Konturen verleihen will: Die politische Hoffnung auf die Durchsetzung universaler Fortschrittsprinzipien („neues Menschenbild“ und „neue Kunst“) gehört der Vergangenheit an, sie wird vom ästhetischen Faszinosum und dem subversiven Potenzial exotischer Ausdrucksformen („phantastischer Realismus“) ersetzt.
Man kann hier eine wiederkehrende historische Abfolge von Deutungsmustern erkennen, die gerade im Blick auf das, was man sich jeweils im Zentrum von der Peripherie erwartet, höchst aufschlussreich sind. Für die Literaturgeschichte gilt das in besonderem Maße, verknüpft sie doch mit ihren Gegenständen Wertungen und Standpunkte, die stets über ihre eigenen Prämissen Auskunft geben sollen. So auch die Geschichten, die über die Literatur der DDR geschrieben wurden. Widmet man sich den darin greifbaren Normen und Orientierungen, zeigt sich daher eine Geschichte der Vorstellungen und Auffassungen, die die westdeutsche Germanistik gegenüber der eigenen Gesellschaft seit 1945 ausgebildet hat (komplettiert wird dieses Bild von der sogenannten Auslandsgermanistik etwa in Frankreich, Italien oder in den USA, da dort die Rezeption der DDR-Literatur noch intensiver dazu genutzt wurde, im Medium der literarischen Kritik gesellschaftspolitische Fragen und gerechtere Formen emanzipierten sozialen Zusammenlebens zu diskutieren und einzuklagen). Diesen Befund zur öffentlichen Mehrfachadressierung theoretischer Anleihen und methodischer Entscheidungen will unser Workshop auch deshalb vertiefen, weil er zur historischen Selbstaufklärung des Faches beitragen kann. Und zwar in einer Weise, die über die Fachgeschichte im engeren Sinne hinausweist, weil sie für die Autorisierung normativer Ordnungen im Verhältnis von Zeitgeschichte, Interpretationshorizonten und Selbstpositionierungen sensibilisiert. Unsere Ausgangsthese lautet deshalb, dass die Auseinandersetzung mit der Literatur der DDR vor allem dann neue Einsichten eröffnen wird, wenn sie die Beziehungen reflektiert, die ihre Gegenstände mit den Standpunkten der Betrachter:innen verbinden.
Die Erforschung von Literatur und Kunst der DDR sollte diese Beziehungen auch deswegen in die Beschreibung ihrer Gegenstände einbeziehen, weil sie dadurch die Bedingungen ihrer Sichtbarmachung erhellen kann: Begreift man die kritische Analyse und Vermittlung der in der DDR produzierten Literatur nicht nur als universitäres Forschungsfeld, sondern als fortgesetzten öffentlichen Selbstverständigungsprozess, rücken Abhängigkeiten in den Blick, die üblicherweise unterhalb der Schwelle wissenschaftlicher Gegenstandsbestimmungen bleiben. Weitet man aber den Fokus auf sie aus, kann die entsprechende Reflexionsarbeit dazu verhelfen, die Rolle zu verstehen, die unsere eigene Gegenwart bei Fragen an eine Vergangenheit spielt, die in vielerlei Hinsicht nach wie vor präsent ist: Was sind die Bedingungen, unter denen die Literatur der DDR in den Blick kommt? Was sind die Gründe ihrer Verhandlung? Welches Bild wird dabei entworfen? Wieviel Eigensinn wird den Gegenständen eingeräumt? Welcher Stellenwert wird den Problemen beigemessen, auf die die literarischen Stimmen zu antworten versuchen?
Anhand dieser Fragen unternimmt es der Workshop, die radikalen Transformationserfahrungen, die sich der DDR-Literatur auf jeweils eigene Weise eingeschrieben haben, als produktive Momente einer unruhigen Literaturgeschichte herauszuarbeiten, die offenbar kein Ende findet. Zugespitzt ließe sich in Anlehnung an eine Formulierung des indischen Anthropologen Arjun Appadurai davon sprechen, dass die Beschäftigung mit jenen offenen Transformationsprozessen, die von Frage bewegt werden, was sich der DDR und ihren Literatur ablesen lässt, nicht nur am Archiv, sondern vor allem auch am sozialen Leben ihrer Gegenstände interessiert ist.
Programm
Mittwoch, 6. Juli 2022
ab 12:00 Mittagsimbiss im Tagungsraum
13:00: Michael Neumann/Kerstin Stüssel: Begrüßung und Einführung
13:30: Hendrikje Schauer (Frankfurt/Oder): Konjunkturen von Narrativen über DDR-Literatur
14:15 Marlene Kirsten (Bonn): Vernachlässigter Luxus: Buchgestaltung in der DDR und Überlegungen zu einer praxeologischen Verlagsforschung
15:00: Kaffeepause
15:30: Anna Horakova (Harvard): Zwischen Generationen und Medien: Christine Schlegels Künstlerbuch zu Gedichten Inge Müllers
16:15: Rebecca Franke (Jena): Werkstattbericht zum Dissertationsprojekt "Die 'Sammlung Kratschmer/Würtz' und die Jugendlyrik der DDR“
17:00: Michael Neumann (Bonn): Literaturgeschichte der DDR. Kriterien ihrer Öffnung und Perspektiven ihrer Beschreibung
17:45: Tagesabschlussdiskussion, 20:00: Gemeinsames Abendessen
Donnerstag, 7. Juli 2022
09:00: Annika Jahns (Jena): Die Schreibenden Arbeiter der DDR auf einem "bitteren Feldweg"? Tradierte Narrative, Positionskämpfe, Desiderate
09:45: Anna S. Brasch (Göttingen): Überleben / Lebensschule. Semantiken des Boxens in Dieter Schuberts Acht Unzen Träume
10:30: Kaffeepause
11:00: Kerstin Stüssel (Bonn): ‚Das Glück braucht Verbündete‘. Ratgeber-Literatur in der DDR
11:45: Carla Steinbrecher (Bonn/St. Andrews): "Kunstensemble und Öffentlichkeit": Robert Weimanns Öffentlichkeitstheorie und die Beobachtung intermedialer literarischer Praktiken in den 1970er Jahren
12:30: Gemeinsamer Mittagsimbiss
13:00: Abschlussdiskussion
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Redaktion: Constanze Baum – Lukas Büsse – Mark-Georg Dehrmann – Nils Gelker – Markus Malo – Alexander Nebrig – Johannes Schmidt
Diese Ankündigung wurde von H-GERMANISTIK [Mark-Georg Dehrmann] betreut – editorial-germanistik@mail.h-net.msu.edu
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