Die SARS-CoV-2-Pandemie verdeutlicht schmerzhaft, dass kollektive Infektionsgeschehen keineswegs nur einer archaischen Vergangenheit der Menschheit angehören, sondern auch eine reale Bedrohung für deren Gegenwart und Zukunft sind. Länder-, gar kontinentübergreifende Massenerkrankungen stellen individuelle, gesellschaftliche, internationale und interkulturelle Beziehungen auf die Probe. Sie führen zu gegenseitiger Schuldzuweisung und Abschottung, zum Reüssieren von Verschwörungsmythen sowie zu einer populistischen und nationalistischen Instrumentalisierung der Krankheit. Zu verzeichnen sind aber gleichfalls die Bereitschaft zu Kooperation und Solidarität, eine intensivierte Epochenwahrnehmung und das verstärkte Bewusstsein, einer Weltgemeinschaft anzugehören. Des Weiteren bieten Seuchen die Möglichkeit, etablierte Denk- und Deutungsmuster zu durchbrechen, und eröffnen Diskursräume für alternative Lebens-, Gesellschafts- und Weltmodelle.
Zur Debatte steht dabei u. a. das Verhältnis von menschlichen Akteuren, Ökosystemen und anderen Spezies. Stets lenken historisch spezifische Konzeptionen von Ansteckung den Blick auf Umwelten und Atmosphären, die Offenheit von Körpern gegenüber Miasmen, Mikroorganismen oder Viren und provozieren dadurch ökologische Fragestellungen. In der Corona-Pandemie zeigt sich dies an der intensivierten Diskussion über die Zusammenhänge zwischen Biodiversitätsverlust, schwindenden Wildhabitaten und sich dadurch ebnenden Übertragungswegen von Wildtieren auf Menschen. Letztere werden verstärkt als endliche Lebewesen wahrnehmbar, die mit anderen Organismen in einer geteilten Umwelt leben. Die mit kollektiven Infektionsgeschehen verbundene Eröffnung von Diskursräumen manifestiert sich auch im naturwissenschaftlichen und medizinischen Bereich, aktuell in der Aerosolforschung, die in nur wenigen Monaten einen enormen Aufschwung und öffentlichen Aufmerksamkeitszuwachs erfahren hat. Zudem wurden mit den Impfstoffen von Biontech/Pfizer und Moderna erstmals von der EMA, der FDA und weiteren staatlichen Regulierungsbehörden mRNA-basierte Vakzine zugelassen, was allgemein einer neuen, mRNA-basierten Generation von Medikamenten zum Durchbruch verhelfen dürfte. In der politischen und ökonomischen Debatte finden die progressiven Potenziale von Pandemien ihren Niederschlag z. B. darin, dass die (vermeintlichen) Vorteile und Risiken der Globalisierung einer genauen Prüfung unterzogen und Modelle einer Post-Wachstumsgesellschaft diskutiert werden.
Wie sich die unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen in diesem Spannungsfeld zwischen den katastrophischen Auswirkungen von Seuchen, ihrer Deutung und medialen Repräsentation sowie ihren Rationalisierungsimpulsen zueinander verhalten, soll der Sammelband aus einer interdisziplinären Perspektive ausloten. Denn kollektive Infektionskrankheiten wie Cholera, Diphtherie, Ebola, die Pest, Pocken, Polio, SARS-CoV2 und die sog. Spanische Grippe sind nicht nur hinsichtlich individueller und nationaler Grenzen transgressiv, sondern auch im Hinblick auf sämtliche Lebensbereiche und Wissensordnungen. Sie adressieren sich gleichermaßen an die Anthropologie, die Geschichtswissenschaft, die Kunstgeschichte, die Linguistik, die Kultur-, Literatur- und Medienwissenschaften, die Medizin und Medizingeschichte, die Naturwissenschaften, die Philosophie, die Politikwissenschaft, die Psychologie und die Rechts-, Religions- und Sozialwissenschaften. So vielfältig wie die disziplinäre Zugehörigkeit des Themas sind auch die methodischen Zugänge zu ihm, z. B. der Ecocriticism, die Interkulturalitätsforschung und die Postcolonial Studies, die Medical Humanities und die Narratologie.
Das zentrale Erkenntnisinteresse des Sammelbands sind die Wechselbeziehungen zwischen den Disziplinen und Forschungsansätzen. Es soll also nicht darum gehen, dass sich jede Fachwissenschaft aus ihrer je eigenen Perspektive unabhängig von den anderen Wissensordnungen dem Thema ,Seuche‘ annähert. Wofür sich der Sammelband interessiert, ist eine Untersuchung, inwiefern und mit welchem Ergebnis es in der Diskursivierung der Seuche zu einer innovativen Kommunikation der unterschiedlichen Disziplinen miteinander kommt. Ziel ist es, aus einer historischen und systematischen Perspektive ein komplexes Bild davon zu zeichnen, wie sich der universale Ausnahmezustand ,Seuche‘ auf die disziplinären Schnittstellen auswirkt bzw. diese überhaupt erst konstituiert. In diesem Zusammenhang ist die leitende These, dass kollektive Infektionskrankheiten über eine diskursive Produktivität verfügen, aus der in besonderer Weise neuartige interdisziplinäre Kopplungen und Interaktionen resultieren. Die Beiträge des Sammelbands sollen sich mit den oben skizzierten Aspekten kritisch auseinandersetzen und einen konstruktiven Austausch zwischen den Fachbereichen ermöglichen.
Die Beiträge werden bei Franz Steiner veröffentlicht. Proposals (max. 500 Wörter) werden bis zum 05.07.2022 erbeten und sind an einen der beiden Herausgeber zu übermitteln:
Dr. Thomas Emmrich (Emmrich@em.uni-frankfurt.de)
Dr. Oliver Völker (Voelker@em.uni-frankfurt.de)
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Redaktion: Constanze Baum – Lukas Büsse – Mark-Georg Dehrmann – Nils Gelker – Markus Malo – Alexander Nebrig – Johannes Schmidt
Diese Ankündigung wurde von H-GERMANISTIK [Lukas Büsse] betreut – editorial-germanistik@mail.h-net.msu.edu
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