Materialität und Materialismus.
Klassiker als Produkt von Buchgestaltung, Diskurs und Ökonomie
Tagung im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar am 9. und 10. Juni 2022
Organisation: Sebastian Böhmer, Daniel Fulda, Marcel Lepper
Als „Klassiker“ haben sich die Weimarer Autoren um 1800 nie selbst bezeichnet, doch wurde ihnen dieses Wertprädikat keineswegs erst retrospektiv zuerkannt. Vielmehr setzte die diskursive Auszeichnung „deutscher Klassiker“ bereits im späten 18. Jahrhundert ein. Eine für die Akzeptanz beim Lesepublikum wichtige Rolle spielten die Verlage, die umfangreiche Reihen mit dieser ‚Marke‘ bewarben. Das paratextuelle Prädikat „Klassiker“ erwies sich dabei als ein Wertsignal, bei dem sich literarische, verlegerische, (produktions-)technische sowie merkantile Hochwertigkeit gegenseitig stützten. Als Untermauerung fungierte vor allem eine „statusbestätigende buchmaterielle Güte“ (Carlos Spoerhase) mit weißem Papier, sauberem, scharfem Druck, großzügigem Schriftbild und der Ausstattung mit Kupferstichen.
Die germanistische Forschung hat im zurückliegenden Jahrzehnt viel Aufmerksamkeit auf die Materialität des Schreibens und der Schrift sowie auf die Publikation und Rezeption von Büchern verwandt. Wie dabei deutlich geworden ist, bewirkt die in der Literaturwissenschaft, didaktik und -kritik lange Zeit fast ausschließlich gepflegte Fokussierung auf den Text als Sinngebilde eine erhebliche Verkürzung. Denn sie übergeht die für die Autoren wie für die Hersteller, Distributoren und Rezipienten bedeutungsvolle Materialität sowohl des handschriftlich verfassten als auch des gedruckten Textes ebenso wie die Interferenzen zwischen der Sinnlichkeit und dem Sinn von Literatur.
Um diese Problematik systematisch zu erfassen, soll der in jüngster Vergangenheit revitalisierte Begriff Materialismus als Verhältnisbestimmung der Dinge gegenüber den sie hervorbringenden und sie zugleich gebrauchenden Gesellschaften Anwendung finden. Bei allen Aspekten, die die einzelnen Ansätze und Arbeiten des sog. Neuen Materialismus‘ voneinander unterscheiden, liegt diesen doch die eine Auffassung zugrunde, dass sich Erkenntnis – über die Gesellschaft, den Menschen, die Geschichte, die Dinge usw. – nicht allein auf der Basis von Textanalysen gewinnen lässt. Insofern ist eine materialistisch-kritische Auseinandersetzung mit ausgerechnet dem würdigsten Repräsentanten der Sinnkultur: dem Buch als non-textuellem Untersuchungsgegenstand auch von zentraler Bedeutung für ein neues Verständnis von Kultur überhaupt.
An diese beiden Forschungsinteressen und -methoden knüpft nun die Tagung an, um den Fokus durch historische, philologische sowie materialitätstheoretische und -praktische Studien zu schärfen und zugleich zu erweitern: zum einen auf das Verhältnis von Materialität und materiellen Interessen, zum anderen auf die Rolle, die das Materielle – im handgreiflich-technischen wie im gesellschaftlich-ökonomischen Sinn – für die Erzeugung und Aufnahme von „Klassikern“ bei den Verlegern, Autoren und ihrem Publikum spielte und bis heute spielt.
Das Ziel der Tagung ist es also, den Zusammenhang zwischen literarischer Hochschätzung und materieller Hochwertigkeit zu rekonstruieren: Zum „Klassiker“ wird man gemacht, womit Verlagsentscheidungen über die Realität des Buches wie dessen Format und die Papier- und Druckqualität ebenso gemeint sind wie die diskursiven Strategien, die literarische qua materielle Hochwertigkeit behaupten, begrüßen, verspotten oder bereits der Ehre der Persiflage übergeben: „Nun sage mir, ob diese Gegend nicht daliegt wie Goethes sämtliche Werke in vierzig Bänden?“ (Wilhelm Raabe: Abu Telfan, 1867)
Den Untersuchungszeitraum bildet schwerpunktmäßig das Jahrhundert zwischen etwa 1750 und 1850, als es üblich wurde, auch deutschsprachige Autoren als „Klassiker“ auszuweisen. Doch sind, da der Zusammenhang bis heute fortbesteht, auch Untersuchungen zum Fortwirken jener Konstellation bis in die Gegenwart willkommen, ebenso Beiträge zur Geschichte und Praxis der institutionalisierten Klassiker-Ausgaben (Archive, Akademien, Stiftungen etc.). Bestandsbasierte Ansätze sind dabei ausdrücklich erwünscht.
Zudem sollen nicht allein deutschsprachige Klassiker oder genauer: Klassikerkonstruktionen untersucht werden, denn der vergleichende Bezug auf die Klassikerausgaben vor allem Frankreichs und Großbritanniens spielte nicht nur im 18. Jahrhundert eine sowohl motivierende als auch legitimierende Rolle: So wie kurz vor 1800 die Collection des auteurs classiques françois et latins als Vorbild diente, wurde die Unseldsche Bibliothek deutscher Klassiker zwischen 1985 und 2013 mit Verweis auf Gallimards Bibliothèque de la Pléiade beworben. Der Diskurs über und die Produktion von Klassikern bei den europäischen Nachbarn sollen daher sowohl hinsichtlich ihrer jeweiligen Eigenheiten als auch in ihrer Vorbildwirkung auf Deutschland in den Blick genommen werden.
Programm
Donnerstag, 9. Juni
14 Uhr
Begrüßung und Einführung durch die Organisatoren
Sebastian Böhmer, Daniel Fulda und Marcel Lepper
14.30 – 16.15 Uhr
Sektion I: Ästhetik der Klassikerausgabe
(Moderation: Marcel Lepper, München)
Carlos Spoerhase (Bielefeld)
„Nationalbuch“ und „Volksbuch“: Erste Beobachtungen zur Frage des Formats?
Elisabeth Décultot (Halle)
Die editorische Konstruktion eines Klassikers. Winckelmann’s Werke in Weimar (1808–1820)
Katherine Harloe (London)
Kommentar und erweiternde Bemerkungen
Sebastian Böhmer (Halle)
Ausgezählt. Überlegungen zur Funktion der Zeilenzählung (Stichometrie) in Klassikerausgaben seit 1900
16.45 – 18.15 Uhr
Sektion II: Verlagspolitik und Verbreitungsstrategien
(Moderation: Christine Haug, München)
Stéphane Zékian (Lyon)
Entre l’élite et le peuple. La vie matérielle du classique dans la France du premier XIXe siècle
Jörg Paulus (Weimar)
Schreiber, Schuldner und Cedenten. Zur Klassikerlage in den Vieweg-Archiven
Philip Ajouri (Mainz)
Klassiker als Eigentum. Preiswerte Klassikerausgaben vor und nach dem Klassikerjahr 1867 zwischen Mission und Kommerz
19.00 Uhr
Abendvortrag
(Moderation: Marcel Lepper)
Daniel Fulda (Halle)
Klassizität zum Anfassen. Deutsche Nachahmungen der Didot’schen Klassiker-Ausgaben
Freitag, 10. Juni
10.00 – 11.00 Uhr
Sektion III: Kanonisierung (1)
(Moderation: Daniel Fulda)
Nathalie Ferrand (Paris)
« Tous mes manuscrits sont de ma main ». Rousseau et la copie pour l’imprimeur de La Nouvelle Héloïse à New York
Stephan Kammer (München)
Arthur Schopenhauers Schreibnetzwerke. Werkideologie als/versus Schreibpraktik
11.30 – 12.30 Uhr
Sektion III: Kanonisierung (2)
(Moderation: Steffen Martus, Berlin)
Franz Eybl (Wien)
Zur Materialität des Klassischen in Kanonisierungsformationen vor 1800
Natalie Binczek (Bochum)
Vermittlung denken. Mittler beschreiben. Heinrich von Kleists Die Marquise von O.…
13.15 – 14.15 Uhr
Sektion III: Kanonisierung (3)
(Moderation: Steffen Martus, Berlin)
Thorsten Unger (Magdeburg)
Zur Popularisierung von Klassikern in Buchreihen am Beispiel von Schillers Wilhelm Tell
Paula Wojcik (Wien)
Materialität und Medialität als Pfeiler der Klassik – ein Blick vom Rand der World Republic of Letters
14.30 Uhr
Abschlussvortrag und Abschlussdiskussion
(Moderation: Sebastian Böhmer)
Wolfgang Matz (München)
Klassiker für die Zukunft: Welche Ausgaben wir brauchen
Die Tagung ist eine von der DFG geförderte Kooperation der Klassik Stiftung Weimar und dem Germanistischen Institut der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Die Organisatoren sind Sebastian Böhmer und Daniel Fulda (beide MLU Halle-Wittenberg) sowie Marcel Lepper (jetzt Carl Friedrich von Siemens Stiftung, München).
Die Teilnahme ist kostenlos. Bei Interesse bitten wir um Anmeldung unter: gsa@klassik-stiftung.de
Sebastian Böhmer
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
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Redaktion: Constanze Baum – Lukas Büsse – Mark-Georg Dehrmann – Nils Gelker – Markus Malo – Alexander Nebrig – Johannes Schmidt
Diese Ankündigung wurde von H-GERMANISTIK [Constanze Baum] betreut – editorial-germanistik@mail.h-net.msu.edu
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