Als Glitch (Panne, Störimpuls) wird eine vorübergehende und oft nur schwer zu fassende Störung in einem System bezeichnet, die dieses zwar nicht in seinem Ablauf gefährdet, aber unvorhersehbare und nicht auf Anhieb erklärbare Effekte mit sich bringt. Ursprünglich ein rein technischer Begriff, hat sich das Konzept ‚Glitch‘ seit einigen Jahren in der kunst- und medientheoretischen Terminologie etabliert, wo es gegenwärtig verschiedene kulturelle und ästhetische Konnotationen mit sich bringt. In der kreativen Auseinandersetzung mit elektronischen Systemen haben sich etwa seit den 1980er Jahren zunehmend kulturelle Praktiken entwickelt, die Glitche mit künstlerischer Absicht sammeln oder gar gezielt provozieren. Glitche haben dabei in der elektronischen Musik, in den visuellen Künsten und auch in Computerspielen an Relevanz und Aufmerksamkeit gewonnen.
Dadurch, dass Glitche Störmomente verursachen, kommt ihnen die Eigenschaft zu, die Machart oder die Funktionsweise ihres Mediums anschaulich aufzudecken. So legen beispielsweise die unterschiedlichen Effekte von Glitchen in JPEG- oder PNG-Dateien offen, wie Informationen in verschiedenen Bildformaten gespeichert werden, während Glitche in Computerspielen es Spieler:innen etwa erlauben, durch scheinbar feste Wände hinter die Kulissen, in Randbereiche virtueller Welten zu gelangen. Der Glitch, wie er sich hier im Bildbruch manifestiert, führt also vielfach zu einer selbstreferentiellen Thematisierung der Beschaffenheit der zugrundeliegenden generativen Struktur.
Die durch Glitche hervorgebrachte Ästhetik, die von der leichten Verfremdung eines Objekts bis hin zur vollständigen Abstraktion reichen kann, zeugt von einem Interesse am Zerbrochenen und Zerstörten und kann als Gegenentwurf zur dominanten Ästhetik des Glatten und Makellosen (Han 2015) verstanden werden. Dies geht mit einer impliziten Auf- und Umwertung von (vermeintlichen) Fehlern einher. Dabei lassen sich verschiedene Formen von Glitchen unterscheiden: Neben zufällig gefundenen Glitchen können diese auch durch eine gezielte Manipulation eines Systems provoziert werden. Darüber hinaus haben sich gerade in den visuellen Künsten ästhetische Ausdrucksformen entwickelt, die vermeintliche Effekte des Glitchs mimetisch nachahmen, ohne dass ein tatsächlicher Glitch zugrunde liegt.
Als ästhetisches und kulturelles Konzept haben Glitche in kunst- und medienwissenschaftlichen Disziplinen bereits einige Aufmerksamkeit erhalten; in den letzten Jahren findet sich das Konzept auch in politischen und kulturtheoretischen Schriften und Manifesten. Diese wenden die Idee einer kleinen Störung mit unvorhergesehen Effekten auf verschiedene gesellschaftliche Systeme an, Russell (2021) macht den Glitch etwa am Beispiel des nicht-binär lesbaren Körpers für die Gender Studies produktiv. Im Gegensatz dazu hat die Reflexion des Glitchs im Kontext der Literaturwissenschaften insbesondere im deutschsprachigen Raum erst in jüngster Zeit begonnen. Ausgehend von konzeptuellen und praktischen Bezugnahmen auf den Glitch durch einzelne Autoren und von einer Praxis digital entstandener poetischer Texte stellt sich die Frage, was das Konzept Glitch für die Literatur bedeutet und wie es sich für literaturwissenschaftliche Problemstellungen einsetzen lässt. Dabei bietet es sich an, zwei grundsätzliche Hinsichten auf den Glitch im Kontext der Literatur zu unterscheiden:
Erstens: Der Glitch als poetisches Verfahren im Umgang mit Sprache. Fehlerbehaftete Algorithmen gibt es nicht nur im Zusammenhang mit Bild- und Tondokumenten, sondern auch im Zusammenhang mit Text; so etwa in fehlerhaft codierten Textdokumenten und im Falle von falsch erkannten Buchstaben und Wörtern beim Einscannen oder Diktieren von Texten, etc. Versteht man natürliche Sprachen als komplexe Systeme, in denen während der konkreten Sprachverwendung kleine Störungen zu unvorhergesehen Effekten führen können, so sind auch nicht-digitale Konstellationen denkbar, die sozusagen als analoge Vorgänger Ähnlichkeiten mit dem Glitch aufweisen: Tipp-, Druck- und Abschreibfehler, Freud’sche Versprecher, Übersetzungsfehler und Wortspiele sowie ihre jeweilige poetische Verwendung. Insbesondere stellt sich hier die Frage, wie Glitche als Zufallsgeneratoren bei der Entstehung poetischer Texte eingesetzt werden können.
Zweitens: Die theoretisch-konzeptionelle Verhandlung von Glitchen in literarischen Texten. In verschiedenen literarischen Texten der letzten Jahre – z. B. in Clemens W. Setz’ Roman Indigo (2012) und im Erzählband Der Trost runder Dinge (2019) oder in Juan S. Guses Miami Punk (2019) – spielt der Glitch als Konzept oder als Metapher eine wichtige Rolle. Welche Funktion erfüllt diese literarische Auseinandersetzung mit dem Phänomen Glitch? Wie werden Glitche in narrativen oder diskursiven literarischen Texten thematisiert, dargestellt und reflektiert? Und darüber hinaus: Wie funktioniert der Glitch als Metapher? Zur Bezeichnung welcher Phänomene wird der Begriff übertragen und was leistet er, was ähnliche Begriffe (Panne, Störung, Ausrutscher, Fehlleistung) nicht vermögen?
Im Hintergrund beider Punkte steht dabei das Interesse, wie sich der Glitch innerhalb der Literaturwissenschaften theoretisch fassen lässt und welche Erkenntnisse sich aus einer „Poetik des Glitchs“ für die Literaturtheorie gewinnen lassen. Weitere Fragestellungen und Schwerpunktsetzungen aus verschiedenen Disziplinen der Geistes- und Kulturwissenschaften, die sich mit Glitchen insbesondere in literarischen Kontexten beschäftigen, sind herzlich willkommen.
Erwünscht sind schriftliche Beiträge in deutscher Sprache mit einem Umfang von 15 bis 25 Seiten, die bis zum 15. November 2022 vorliegen sollen. Die Beiträge werden im Frühjahr 2023 in einer thematischen Ausgabe zum Glitch in der digitalen literaturwissenschaftlichen Zeitschrift Bildbruch. Beobachtungen an Metaphern (bildbruch.com) erscheinen. Wir bitten um kurze Abstracts im Umfang von max. 450 Wörtern bis zum 15. Juni 2022. Bitte senden Sie Ihre Vorschläge an die Gastherausgeber:innen der Ausgabe:
- Jodok Trösch (Universität Basel): jodok.troesch@unibas.ch
- Janneke Meissner (Universität Mannheim): jmeissne@mail.uni-mannheim.de
Literatur
- Betancourt, Michael: Glitch Art in Theory and Practice. Critical Failures and Post-Digital Aesthetics. New York 2017.
- Boyle, Casey: The Rhetorical Question Concerning Glitch. In: Computers and Composition 35 (März 2015): 12–29, https://doi.org/10.1016/j.compcom.2015.01.003 [8.4.2022].
- Cubitt, Sean: Glitch. In: Cultural Politics 13.1 (2017): 19–33.
- Han, Byung-Chul: Die Errettung des Schönen. Frankfurt am Main 2015.
- Kane, Carolyn L.: High-Tech Trash. Glitch, Noise and Aesthetic Failure. Oakland 2019.
- Kane, Carolyn L.: Compression Aesthetics: Glitch from the avant-garde to Kanye West. In: InVisible Culture: An Electronic Journal for Visual Culture 21 (2014).
- Krapp, Peter: Noise Channels. Glitch and Error in Digital Culture. Minneapolis 2011.
- Lehmann, Florian: Rauschen, Glitches, Non sequitur: Clemens J. Setz’ Poetik der Störung. In: Iris Hermann und Nico Prelog (Hg.): „Es gibt Dinge, die es nicht gibt“: Vom Erzählen des Unwirklichen im Werk von Clemens J. Setz. Würzburg 2020, 119–37.
- Manon, Hugh S. und Daniel Temkin: Notes on glitch. In: World Picture 6 (2011): 118–136.
- Menkman, Rosa: The Glitch Moment(um). Amsterdam 2011.
- Menkman, Rosa: Glitch Studies Manifesto. In: Geert Lovink und Rachel Somers-Miles (Hg.): Video Vortex Reader II: Moving Images Beyond YouTube. Amsterdam 2011, 336–347.
- Nunes, Mark (Hg.): Error. Glitch, Noise, and Jam in New Media Cultures. New York 2011.
- Pieschel, Alex: Glitches. A Kind of History. In: Arcade Review 2014, https://web.archive.org/web/20141222034918/http://www.arcadereview.net/blog/2014/11/7/glit... [8.4.2022].
- Russel, Legacy: Glitch Feminism. A Manifesto. London/New York 2020.
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