Ökologische Vorstellungswelten der Verluste
Mehr denn je wollen literarische Texte aus der Gegenwart ihre Leserschaft ökologisch sensibilisieren. Dazu bemühen sie sich, die Verletzungen zu zeigen, die die Menschen der Umwelt zufügen und zugefügt haben. Dass das Konzept des Anthropozäns sich auch in der literarischen Imagination verfestigt, bestätigt diese Tendenz. Darüber hinaus wächst das Bewusstsein, dass das, was wir als ‚Natur‘ bezeichnen, nicht länger als Kulisse oder Spiegel menschlicher Subjektivität gesehen werden kann. Natur bewährt sich hierbei als eigenständige narrative Kraft. Schon vor fast dreißig Jahren schrieb Lawrence Buell, einer der „founding fathers“ einer Literaturwissenschaft, die ökologische Belange nachdrücklich zu berücksichtigen suchte, dass „die Menschheitsgeschichte in die Naturgeschichte eingebettet sei (Buell 1995). Hierin schlummert eine nicht-anthropozentrische Logik, die nicht länger das menschliche Interesse für das einzig legitime hält. Dabei ist allerdings nicht zu vernachlässigen, dass sowohl anthropogene als auch autopoietische Kräfte eine inhärent zerstörerische Tendenz aufweisen und zu ökologischen Verlusten führen: die Schrumpfung der Lebensräume von Tierarten, die Abnahme von natürlichen Ressourcen, Artensterben und Waldverluste.
Es ist daher ein wichtiges literaturwissenschaftliches Unterfangen, den Einfluss, den die ökologischen Verluste auf die literarische Imagination haben, zu erfassen und zu untersuchen, wie die Verluste die deutschsprachige literarische Landschaft prägen. Das ist das Ziel unseres Sammelbandes, für den wir noch einige Beiträge suchen. Der Band ist das Ergebnis eines internationalen Kolloquiums, das wir im vergangenen Jahr organisiert haben.
Alle literarischen Fiktionalisierungen in deutscher Sprache kommen in Frage. Besonders interessieren uns Beiträge, die die formalen Darstellungsmittel, um ökologische Verlusterfahrung zum Ausdruck zu bringen, ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken.
Die folgenden Forschungsbereiche stehen hierbei im Mittelpunkt:
- drohende Verluste: Die literarische Imagination ermöglicht den Zugang zu Alternativwelten, in denen die uns heute bekannten (und bedrohten) Arten und Lebensräume ausgemerzt wurden. Wie sähe eine solche Welt aus, und welchen Platz würde sie dem menschlichen Subjekt einräumen? Welche Verbindungen zwischen Menschen und nichtmenschlichen Anderen entstehen in einer geteilten Erfahrung der Bedrohung? Potentiell geht es um Risikonarrativen, in denen „crises are already underway all around, and while their consequences can be mitigated, a future without their impact has become impossible to envision” (Heise, 2008 142).
- tatsächliche Verluste: Die ökologische Trauerarbeit in der Literatur bietet die Möglichkeit, das zu verarbeiten, was nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft als endgültig ‚verloren‘ gilt. Hierbei erhebt sich die Frage, was am meisten betrauert wird: dass die Menschen ihre Glaubwürdigkeit als „Krone der Schöpfung“ verloren haben, oder vielmehr der Verlust der Artenvielfalt.
- Archivierungsversuche: Archivieren erfordert Selektieren – was ist ‚wichtig genug‘, um bewahrt zu werden, und was darf entsorgt werden? Bei der Selektion treten auch Verdrängungsprozesse auf, bewusst oder unbewusst. Wer ist der Archivar? Wie verhält sich das Archivieren zum Wiedergebrauch und zum Recyclen? Wie versöhnen die menschlichen Subjekte in literarischen Texten ihr Wahrnehmungs- und Vermittlungsmonopol mit der Tatsache, dass sie nicht länger die zentralen Handlungsträger in der von ökologischen Umbrüchen geprägten Welt sind?
- (vorläufige) Rettungsversuche: Literarische Welten erzeugen eine Umweltsensibilität. Sind menschliche Subjekte in der Lage, die Folgen ökologischer Umbrüche abzumildern und Verluste (vorübergehend) zu verhindern? Ökomodernisten sind davon überzeugt, dass die Nutzung von Technologien zur Verringerung von Umweltauswirkungen bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung eines hohen Lebensstandards von Menschen erreicht werden kann. Sehen wir das auch in der literarischen Imagination?
- Wahrnehmung der Verluste: Die ökologisch zerstörten Landschaften verändern die Beziehung zu Zeit und Raum. Angesichts der Verluste wird die Deutungsarbeit des menschlichen Subjekts verkompliziert. Zeit und Raum verdichten sich. Die Vergänglichkeit eines menschlichen Lebens und die Erinnerungen einer einzelnen Person stehen im Gegensatz zu dem, was potenziell unendlich ist und eine Gegenwart des Vergangenen erzeugt.
Um Zusendung von Beitragsvorschlägen (etwa 500 Wörter), sowie Kurzbiografien und Publikationslisten der Verfasser:innen wird bis zum 15. Mai 2022 gebeten. Bitte senden Sie Ihre Vorschläge an die Herausgeber:innen des Bandes: Prof. Dr. Benjamin Biebuyck benjamin.biebuyck@ugent.be und Hanne Janssens hanjanss.janssens@ugent.be. Die Beiträge selbst sollten bis zum 15. Dezember 2022 eingereicht werden.
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