TAGB: Wozu das ganze Schreiben? (04.–06.12.2018, Ulm)

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TAGB: Wozu das ganze Schreiben?

Veranstalter: Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universität Ulm

Datum, Ort: 4.–6.12.2018, Ulm

Bericht von: Aurelia Bauer und Frank Ursin, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universität Ulm

 

Vom 4. bis 6. Dezember 2018 veranstaltete das Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universität Ulm, die interdisziplinäre Tagung „Wozu das ganze Schreiben?“. Hierfür luden die Veranstalter Wissenschaftler*innen aus dem In- und Ausland dazu ein, sich gemeinsam dem Verhältnis von Literatur und Medizin zu widmen. Die Veranstaltung war geleitet von der Frage, warum sich so viele Schriftsteller*innen, Betroffene und Akteur*innen des Gesundheitswesens literarisch mit Medizin auseinandersetzen. Schwerpunkte der Veranstaltung waren der literarische Blick auf die Medizin, das Schreiben von Schriftstellerärzt*innen, Krankheitserfahrungen von Betroffenen, der Einsatz von Literatur in der klinischen Praxis sowie das Schreiben als Brücken zwischen Patient*innen und Therapeut*innen bzw. der Öffentlichkeit.

Der erste Veranstaltungstag begann mit der Begrüßung und kurzen thematischen Einführung durch Florian Steger und Katharina Fürholzer. In der ersten Sektion „Praxis in der Literatur“ betrachtete RUDOLF DRUX (Köln) den individuellen Krankheitsfall als Paradigma einer allgemeinen Krise. Hierzu zog er Georg Büchners (1813–1837) Erzählung Lenz (1839) als Beispiel heran. Er veranschaulichte die Art und Absicht, auf welche die Leidensgeschichte des Lenz‘ beschrieben wurde und schlug einen Bogen auf das Gefühl der „Zerrissenheit“ der gesamten Epoche, das unter anderem auch Heinrich Heine (1797–1856) beschrieb. In diesem Beispiel war das Schreiben eine Antwort auf gesellschaftskritische Momente.

Auch JULIANE WERNER (Wien, Österreich) widmete sich in ihrem Vortrag einer Reihe von Beispielen, in denen Schreiben als Gesellschaftskritik diente. Sie bot zunächst einen Überblick über die verschiedenen Texte von und aus österreichischen Psychiatrien. Auffällig ist in diesen Texten der häufig negative und raue Ton, was vermutlich der Aufklärung über die Zustände in Psychiatrien dienen sollte. Anschließend führte Werner in Leben und Werk von Helene von Druskowitz (1856–1918) ein, die sich besonders gegen das patriarchale System der Psychiatrien und des Staates überhaupt aussprach. Ähnliche Themen fänden sich auch bei Brigitte Schwaiger (1949–2010).

Dies lieferte eine Überleitung zur zweiten Sektion „Ärztinnen als Literatinnen“. JULIA PRÖLL (Innsbruck, Österreich) arbeitete Motive des Schreibens anhand zeitgenössischer französischsprachiger Schriftstellerärztinnen heraus. Bei Nicole Audet und Sophie Tal Men gehe das Schreiben über ihren Beruf der Popularisierung von medizinischen Themen einher. Im Unterschied dazu zeigt sich bei den Autorinnen Jaddo, Marie Didier und Ouanessa Younsi, dass ihnen das Schreiben eher zur Auseinandersetzung mit eigenen Erfahrungen und Emotionen dient. Dabei lasse sich zugleich das Verhältnis zu ihren Patient*innen verbessern. Hier werde also Vulnerabilität exploriert und genutzt. Gleichzeitig müsse man sich über die Grenzen der Literatur bewusst werden: Schreiben ist kein Allheilmittel.

Einen autobiographischen Einblick in die Realität des Schreibens als Ärztin gab die gebürtige Brasilianerin VIRNA TEIXEIRA (London, England). Sie berichtete über ihre Arbeit als Neurologin und Psychiaterin in London sowie über die Bedingungen eines Gesundheitssystems, das oft sowohl für Ärzt*innen als auch Patient*innen traumatisierend sei. Im lyrischen Schreiben eröffne sich der Autorin die Möglichkeit, ihren beruflichen Erfahrungen und Emotionen Ausdruck zu verleihen. Das helfe ihr zugleich dabei, das Innenleben von Patient*innen besser zu verstehen. Ein besonders ergreifendes Erlebnis seien dabei Gefühle der Fremdheit, die sie als Brasilianerin auch selbst beträfen.

Der erste Veranstaltungstag endete mit der Lesung der Schriftstellerärztin MELITTA BREZNIK (Scuol, Schweiz), die Einblick in ihr literarisches Werk gab. Breznik näherte sich der leitenden Frage „Wozu das ganze Schreiben?“ in einer Mischung aus gelesenen Romanauszügen und ergänzenden biographischen Erläuterungen. Dabei wurde deutlich, in welchem Maß Schreiben für die Schriftstellerärztin einerseits durch ihre Erfahrungen als Ärztin und andererseits durch Recherchen in der eigenen Familiengeschichte geprägt sind.

Der zweite Veranstaltungstag begann mit YUUKI KAZAOKA (Sagamihara, Japan), der zugleich die dritte Sektion über „Krankheitserfahrung“ eröffnete. In seinem Vortrag widmete sich Kazaoka schriftstellerischen Selbstreflexionen über das Schreiben. Seine Ausführungen illustrierte Kazaoka anhand des Essays Unter dem Pandanus des japanischen Autors Nakajima Atsushi (1909–1942). Nakajima beschrieb in diesem Essay eine Art „Südseedemenz“, die sowohl an die kulturellen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs als auch an eigene Krankheitserfahrungen geknüpft waren. In der Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, ob es sich bei der „Südseedemenz“ um eine Form der „inneren Immigration“ handeln könne.

JARMILA MILDORF (Paderborn) behandelte Siri Hustvedts autobiographisches Buch The Shaking Woman (2010), worin sich Hustvedt mit ihrer eigenen Krankheitserfahrung auseinandersetzt. Mildorf ging von der Beobachtung aus, dass die Beschreibung von Lebensgeschichten üblicherweise dem Leben selbst einen Sinn abringen soll. Bei Hustvedt handle es sich allerdings um ein broken narrative. Sie fragte, was die Erzählfunktion ihrer Krankheitserzählung sei: Will sich Hustvedt durch ihr Schreiben selbst heilen? Bemächtigt sie sich dadurch ihrer Krankheit? Inwieweit erlaubt ihr das Schreiben, ihre Erfahrungen mit ihren Leser*innen zu teilen? In diesem Zusammenhang widersprach sie rezenten Positionen der Forschung, die besagen, dass sich Hustvedt nicht um ihre Leser*innen kümmere. Es sei hingegen möglich, dass sich Hustvedt in ihre Krankheit „einschreibe“.

JENNIFER KAPPE (Gießen) führte in ihrem Vortrag den Begriff des Depressionsmemoirs ein. Das Memoir als Genre sei zwischen Fakt und Fiktion angesiedelt. Seine unabgeschlossene, vorläufige Anlage steht im Gegensatz zu den Lebenserinnerungen, die üblicherweise am Ende des Lebens verfasst werden. Kappe untersuchte anhand von rezenten Depressionsmemoiren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur das „Warum?“ des Schreibens. Die meisten Autor*innen fokussierten auf Motive wie Erinnerung oder Ablenkung, Erkenntnis oder Katharsis. In den meisten der von ihr exemplarisch behandelten Memoiren erscheine das Schreiben im Sinn einer Pathographie als performativer Akt der Genesung.

MARCELLA FASSIO (Oldenburg) befasste sich in ihrem Beitrag mit Literatur über Depression. Ihre zentrale These war, dass sich die Protagonisten der deutschsprachigen Depressionsnarrative der 2000er Jahre durch eine sogenannte Resubjektivierung ihre Geschichte zurückerobern. In der anschließenden Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, ob jede Person unsanktioniert alles publizieren dürfe: Könne man eine Amtsperson noch ernst nehmen, wenn durch die von ihr vermutlich autobiographisch publizierte Literatur etwa eine affektive Störung zu diagnostizieren wäre? Damit wurde für die Grenzen des Schreibens sensibilisiert.

SEBASTIAN ZILLES (Bamberg) nahm in seinem Vortrag gesellschaftlich stigmatisierte Bereiche in den Blick. Sein Beitrag war geleitet von der Frage, wie die Kategorie Zeit in der deutschsprachigen HIV/AIDS-Literatur im Hinblick auf das Zeitbewusstsein und die Zeitwahrnehmung reflektiert wird und welche Metaphern zu ihrer Darstellung verwendet werden. Dabei stellte er heraus, in welchem Maß sich Lebenszeit angesichts infauster Prognosen zu einer knappen und wertvollen Ressource entwickelt. Der Mehrwert von Zilles Lesart bestand darin, in dem subjektiven Krankheitserleben eine zeitgeschichtliche und -philosophische Dimension sichtbar zu machen.

In der vierten Sektion „Literatur in der Praxis“ wurden Anwendungsfelder der Medical Humanities diskutiert. Den Auftakt machte der Arzt und Schriftsteller RAIMO PUUSTINEN (Tampere, Finnland). In seinem Vortrag erläuterte Puustinen Möglichkeiten, wie sich Literatur in den medizinischen Unterricht integrieren lässt. So nutzt Puustinen in seinem Unterricht literarische Texten wie Anton Chekhovs (1860–1904) Ein Fall aus der Praxis (1898), um Studierenden der Medizin die vielen Möglichkeiten und Nuancen zu erläutern, die ein ärztliches Beratungsgespräch bietet. Hiermit soll vor allem ein Verständnis für die Individualität jedes einzelnen Patienten erreicht werden.

Die Literaturwissenschaftlerin KATHARINA EDTSTADLER (Wien, Österreich) warf einen Blick auf die neue Generation von schreibenden Ärzt*innen. Am Beispiel von Pathographien wie der des Neurochirurgen Paul Kalanithi (1977-2015) When Breath Becomes Air (2016) stellte Edtstadler die erzähltheoretischen Merkmale und das spezifische Vokabular des sogenannten profession writing vor. Sie stellte heraus, dass der subjektive ärztliche Blick auf Krankheiten, der sich von der institutionell vorgegebenen Aufzeichnungspraxis unterscheide, im Vergleich mit der Pathographie von Betroffenen in dieser Gattung des profession writing besonders hervortrete.

Der Psychiater und Schriftsteller DANIEL KETTELER (Berlin) nutzt Literatur als Ressource in der psychotherapeutischen Praxis. Patient*innen werden ermutigt, Tagebücher zu führen oder Skizzen anzufertigen. Das Schreiben dient in diesem Fall sowohl zur Dokumentation, zur Reflexion und zur Selbstorganisation. Das kommt sowohl den behandelnden Ärzt*innen als auch den Betroffenen zugute. Am konkreten Beispiel von Tagebuchaufzeichnungen eines Patienten diskutierte Ketteler die selbsttherapeutische Wirksamkeit dieser Gattung.

Die fünfte und letzte Sektion trug den Titel „Schreiben als Brücke“. Der Psychiater MORITZ WIGAND (Günzburg) untersuchte in seinem Vortrag Situationen aus der therapeutischen Praxis, in denen die Kommunikation zwischen Therapeut*innen und Patient*innen gescheitert ist. Laut Wigand hat Lyrik das Potenzial, in solchen Situationen eine Brücke herzustellen. Ausgehend von T. S. Eliots (1888–1965) Gedicht The Wasteland (1922) demonstrierte er, dass die hermetische Lyrik T. S. Eliots einen auch berühre, obwohl man sie nicht unmittelbar verstehe. Damit führe Lyrik zu einer positiven Bewertung des „Nicht-Verstehens“ und stellt damit einen Gegenentwurf zu modernen Diagnosemanualen dar. Die modernen Diagnosemanuale suggerierten ein vollständiges Verstehen, wo keines herrsche, wenn eine psychiatrische Diagnose gestellt würde.

Einen Einblick in die Möglichkeiten, wie Social Media-Plattformen einen Beitrag zur Aufklärung über Krankheit und zur Hilfe und Unterstützung von Betroffenen leisten können, gab KATJA HERGES (Günzburg) am Beispiel der ALS-Patientinnen Sandra Schadek (1971–2015) und Nina Zacher (1970–2016). Beiden Patientinnen ermöglicht das Bloggen über ihre Krankheit, sich auch bei fortschreitender Krankheit mit anderen auszutauschen. Das Medium des Blogs eröffne, so Herges, dadurch eine Form des Schreibens, die öffentlich und privat zugleich sei. Diese Art von Veröffentlichung habe zudem ein politisches Potenzial und rege ethische Diskussionen an.

Auch ANNE RÜGGEMEIER (Freiburg im Breisgau) stellte alternative Formen des Schreibens vor. Sie beschäftigte sich mit der Visualisierung von Krankheiten. Eine Form der Visualisierung sah sie in Checklisten, wie sie im medizinischen Alltag verwendet werden. Durch die Übertragung von Merkmalen eines Menschen in anonyme, neutrale Listen werde das Individuum entpersonalisiert. Dieser Effekt lasse sich auch bei bildgebenden Verfahren feststellen. Wie dies nicht nur in der Praxis, sondern auch in der Literatur geschehe, demonstrierte sie am Beispiel von Margaret Edsons (geb. 1961) Theaterstück Wit (1999) und Brian Fies‘ Graphic Novel Mom's Cancer (2004).

Die Teilnehmer*innen der Tagung nahmen aus verschiedenen Perspektiven das „Wozu?“, also die Funktion des Schreibens in den Blick und lieferten dementsprechend vielfältige Antworten. Es fielen dabei einige immer wiederkehrende Themen und Gründe auf, wie zum Beispiel die Kritik, Aufklärung, Selbstreflexion und das bessere Verstehen subjektiver Erfahrungen von Patient*innen aus ärztlicher Sicht. Gerade diese Brücke zwischen Ärzt*innen und Patient*innen wird häufig durch das Schreiben über sich und die Krankheit gebaut. Auch die Frage nach den Grenzen und der Grenzüberschreitung kam immer wieder auf. Dass das Schreiben nicht alles heilen kann, ist allen bewusst. Doch die Unterstützung und Ressource, die es bietet, ist ein wichtiger Teil des Verarbeitungs- und Genesungsprozesses derer, die täglich mit Leid und Krankheit im Kontakt stehen.

 

Tagungsprogramm

Sektion 1: Praxis in der Literatur

Rudolf Drux (Köln): Der individuelle Krankheitsfall als Paradigma einer allgemeinen Krise. Zu Georg Büchners Erzählung Lenz

Juliane Werner (Wien, Österreich): „Sie wissen nur zu gut, daß ich nicht verrückt bin.“ Schreiben von und aus österreichischen Psychiatrien

Sektion 2: Ärztinnen als Literatinnen

Julia Pröll (Innsbruck, Österreich): Nachuntersuchung? Popularisierung? Heilsame Zäsur? Zeitgenössische französisch-sprachige Schriftstellerärztinnen und die vielfältigen Beweggründe ihres Schreibens im Kontext der Produktivität von Geschlechterverhältnissen

Virna Teixeira (London, England): Suite 136. Understanding patients’ experiences under the Mental Health Act in England through poetry

Melitta Breznik (Scuol, Schweiz): Lesung

Sektion 3: Krankheitserfahrungen

Yuuki Kazaoka (Sagamihara, Japan): Selbstreflexion über das Schreiben, konfrontiert mit Krieg und Krankheit. Zu Nakajima Atsushis Essay Unter dem Pandanus

Jarmila Mildorf (Paderborn): Erzähllogik und Krankheitserfahrung. Siri Hustvedts The Shaking Woman

Jennifer Kappe (Gießen): Depressionsmemoir. Wissen und Reflexion eines neuen Genres der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

Marcella Fassio (Oldenburg): „Ich muss mir meine Geschichte zurückerobern“. Schreiben als Praktik der Subjektivierung in Depressionsnarrativen der 2000er Jahre

Sebastian Zilles (Bamberg): „Aber in einem wurde ich sparsam, knausrig und geizig. Mit meiner Zeit“. Ausgewählte deutschsprachige HIV-/AIDS-Romane und ihre Auseinandersetzung mit der Zeit

Sektion 4: Literatur in der Praxis

Raimo Puustinen (Tampere, Finnland): Learning to see. Using literature texts to illustrate the many facets of medical consultation

Katharina Edtstadler (Wien, Österreich): Profession-writing in der Medizin – eine neue Form der Pathographie?

Daniel Ketteler (Berlin): Ressourcenorientiertes Schreiben. Tagebücher, Skizzen und Notate in der sozio-therapeutischen Praxis. Mit einem Exkurs zum “Tagebuch der Trauer” von Roland Barthes

Sektion 5: Schreiben als Brücke

Moritz Wigand (Günzburg): Understanding poems and patients: What can we learn from T.S. Eliot and Karl Jaspers?

Katja Herges (Günzburg): Writing Illness as Affective Practice of Care

Anne Rüggemeier (Freiburg): Visualizing Illness. The Remediation of Medical Imaging Techniques in Graphic Illness Narratives

 

 

 

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