Mildenberger on Plesser and Thamer, 'Arbeit, Leistung und Ernährung: vom Kaiser-Wilhelm-Institut für Arbeitsphysiologie in Berlin zum Max-Planck-Institut für Molekulare Physiologie und Leibniz-Institut für Arbeitsforschung in Dortmund'


Theo Plesser, Hans-Ulrich Thamer. Arbeit, Leistung und Ernährung: vom Kaiser-Wilhelm-Institut für Arbeitsphysiologie in Berlin zum Max-Planck-Institut für Molekulare Physiologie und Leibniz-Institut für Arbeitsforschung in Dortmund. Stuttgart: Steiner, 2012. 590 pp. ISBN 978-3-515-10200-1.

Reviewed by Florian Mildenberger (Europa Universität Viadrina)
Published on H-German (February, 2014)
Commissioned by Chad Ross

Surrogates of Labor--Fragile Triumphs in Science

Die historische Rückbesinnung fällt heutigen Naturwissenschaftlern nicht immer leicht, häufig sind Anstöße seitens der Geisteswissenschaftler nötig. Der Mitherausgeber Theo Plesser räumt dies im Vorwort offen ein: die Kooperation mit Historikern habe das Buch ermöglicht und einen neuen, vielfach schmerzhaften Blick auf die Vergangenheit des Kaiser Wilhelm Instituts (KWI) für Arbeitsphysiologie verschafft. Das Institut war 1913 in Berlin gegründet worden, 1929 nach Dortmund umgezogen und 1956 geteilt worden. Eine Abteilung avancierte zum eigenen Max-Planck-Institut (MPI) für Ernährungsphysiologie. 1959 erfolgte die Integration eines Teils des ursprünglichen Instituts in die Universität Dortmund, 1973 wurde das MPI für Arbeitsphysiologie in MPI für Systemphysiologie umbenannt. 1993 erfolgte die Rückverschmelzung der System- und Ernährungsphysiologen zu einem MPI für molekulare Physiologie. Die Institutsgründungen sind untrennbar mit den Namen herausragender Gelehrter verbunden, z.B. Max Rubner (1854-1932), Edgar Atzler (1887-1939), Heinrich Kraut (1893-1992), Otto Graf (1893-1962) oder Gunther Lehmann (1897-1974).

Aufgrund dieser verschlungenen Geschichte und der betroffenen Zeitabschnitte war bei einem führenden Forschungsinstitut wohl von Anfang zu erwarten gewesen, dass es neben personellen und wissenschaftstheoretischen Kontinuitäten auch Brüche gegeben haben musste. Das Einführungskapitel aus der Feder der Naturwissenschaftler Rolf Kinne und Theo Plesser bietet ein Potpourri an wissenschaftlichen Leistungen in der Vergangenheit, die Schilderung von Brüchen (Ernährungsfragen) und die Orientierung an den Interessen der Industrie im Ruhrpott. Ausgehend vom Rationalisierungsdruck der 1920er Jahre versuchten die Arbeitsphysiologen (Fließband)Arbeit und Menschen zugunsten Letzterer aneinander anzupassen. Auch die Verwicklungen in den Nationalsozialismus werden in diesem Kapitel angesprochen, ebenso wie die Kontinuitäten nach 1945. Der Leser, der nun eine genauere Hinführung zur Entstehung des KWI’s erwartet, wird aber zunächst enttäuscht. Die Kapitel über die Arbeit am Institut seit seiner Gründung und seine Kooperationen werden erst im zweiten und dritten Teil des Buches thematisiert. Stattdessen erfährt der Leser von der Kooperation mit sowjetischen Wissenschaftlern in einem eigenen Kapitel. Die erheblich tiefer gehende Zusammenarbeit mit angloamerikanischen Kollegen wurde hingegen in die übrigen Teile des Buches integriert und nicht gesondert vorgestellt. Das dritte Kapitel ist den Kriegsverlagerungen des Instituts von Dortmund nach Bad Ems und Dietz gewidmet, während der von der Wissenschaftsjournalistin Cornelia Stolze verursachte Abriss über den Strukturwandel im Ruhrgebiet und die Einbettung des Instituts überhaupt nicht ins Buch passt. Stolze liefert eine Art Werbetext für Landesregierung und Max-Planck-Gesellschaft ab und keinerlei Hinweise auf internationale Wissenschaftsdiskurse. Ebenso unvermittelt wie das vorherige Kapitel wird der Leser anschließend über die Geschichte der Ausgründung „Leibniz Institut für Arbeitsforschung“ informiert. Eine bebilderte Ahnenreihe der führenden Wissenschaftler aller Institute bildet den Abschluss des konfus zusammengestellten ersten Teils des an sich wertvollen Sammelbandes.

Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, politischen Anstrengungen und Ressourcen, welche auf die Tätigkeit der Arbeitsphysiologen in den 1920er Jahren einwirkten, schildert in seinem Beitrag eindrucksvoll der Duisburger Historiker Frank Becker. Die Industrie war von Rationalisierungsdruck betroffen, die Armee verkleinert und eine körperliche Ertüchtigung der Jugend seitens aller politischen Akteure und gesellschaftlichen Kräfte gleichermaßen erwünscht. Die Arbeitsphysiologen in Berlin (und später in Dortmund) lieferten hierfür das wissenschaftstheoretische und methodische Rüstzeug und entzauberten nebenbei die überkommenen Vorstellungen über Ermüdung als Entartung. Nun wurde deutlich, dass alle Bevölkerungsteile gleichermaßen von Ermüdung bei jeglicher Arbeit betroffen waren. Dadurch wiederum gelang den vor 1914 als realitätsfern kritisierten Arbeitsphysiologen ein Durchbruch in der gesellschaftlichen und politischen Akzeptanz, wie der Historiker Alexander Neumann in seinem Beitrag herausstellt. Das KWI für Arbeitsphysiologie entwickelte neue Untersuchungsmethoden, kooperierte eng mit Arbeitgebern und Gewerkschaften. Eine vertiefende Auseinandersetzung mit diesen Tätigkeitsfeldern erfolgt aber nicht hier, sondern in späteren Kapiteln. Etwas verstörend wirken einige Formulierungen Neumanns. So bezeichnet er die Verdrängung der als jüdisch oder politisch unzuverlässig eingestuften Gelehrten 1933 ohne Anführungszeichen mit dem Verb „ausschalten“ (S. 181). Zudem behauptet er, eine ideologische Übereinstimmung mit dem Nationalsozialismus sei nicht erforderlich gewesen. Dass es aber tatsächlich umfängliche rassenphysiologische und -psychologische Studien am KWI gab, wird von Neumann nicht erwähnt und erst auf S. 512 seitens des Sozialhistorikers Jens Adamski kurz angeschnitten. Nicht nur im Beitrag Neumanns, aber hier im besonderen drängt sich die Frage auf, weshalb die Herausgeber einen Sammelband konzipierten, anstatt die sich teilweise ergänzenden, teilweise widersprechenden, aus zeitlichen Kontexten gerissenen Einzelbeiträge zu einem Gesamtwerk in Form einer Monographie zu verbinden.

Auf  Neumann folgend enthüllt der Frankfurter Historiker Florian Schmaltz, welcher Auftraggeber dem KWI für Arbeitsphysiologie nach 1918 die Möglichkeit zur Perfektionierung und Neuentwicklung der eigenen Untersuchungsmethoden zur Belastungsforschung gewährte: die Reichswehr. Die zusammengeschrumpfte Armee suchte nach der perfekten Gasmaske, das KWI lieferte die Praxisübungen und konnte so zugleich die für die Arbeitswelt nötigen Parameter für die Grenzen körperlicher Belastung, Kalorienverbrauch, Grundumsatz oder Wärmeverlust ermitteln. Auf S. 227 kommt Schmaltz zu einem bemerkenswerten Ergebnis, nämlich dass die Soldaten unter Gasmasken kaum zu operativer Kriegsführung geeignet waren. Vielleicht wäre es interessant, diese Erkenntnisse aus den 1920er Jahren mit der gescheiterten Großoffensive des kaiserlichen Feldheeres im Frühjahr 1918 an der Westfront in Bezug zu setzen, als die Oberste Heeresleitung ihre Soldaten unter Gasmasken in eine vergebliche Durchbruchsschlacht hetzte.

Die zentrale Rolle des ersten Institutsdirektors Max Rubner und seine an Chauvinismus wie Naivität kaum zu überbietende Tätigkeit als Ernährungstheoretiker im Ersten Weltkrieg beschreiben in ihren thematisch und chronologisch ausnahmsweise aufeinander abgestimmten Beiträgen die Historiker Daniel Schmidt und Lutz Budraß. Rubner hatte zunächst angenommen, die deutsche Ernährungswirtschaft könnte die Nahrungsmittelversorgung trotz der Seeblockade der Entente sicherstellen, was sich jedoch als Fehleinschätzung erwies. Angesichts der Hungersituation in Deutschland entwickelten die Arbeitsphysiologen neue Vorgaben für Mindestrationen, ohne die Konsequenzen ihrer früheren und falschen Überlegungen kritisch zu hinterfragen. In der Zwischenkriegszeit wurden diese Studien vertieft und im Zweiten Weltkrieg durch die sich wie ein rotes Band durch den gesamten Sammelband ziehende „Kraut-Aktionen“ perfektioniert. Der Ernährungsphysiologe Heinrich Kraut unternahm mit Förderung des Stahlmagnaten und Präsidenten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG), Albert Vögler, Untersuchungen an 7000 sowjetischen und italienischen Zwangsarbeitern. Um die Leistung für die deutsche Kriegsindustrie zu optimieren, empfahl Kraut die Arbeitssklaven durch Zusatzrationen zu mehr Leistung anzuspornen. Die Kernbotschaft nach 40 Jahren Ernährungsphysiologie lautete demnach: wer mehr Kalorien erhält, kann mehr arbeiten. Welch Erkenntnis!

Nach 1945 durfte Kraut seine an Zwangsarbeitern gewonnenen Erkenntnisse sogleich in Band 104 der „Science“ veröffentlichen – der Leiter des Harvard Fatigue Laboratory, David B. Dill (1891-1986) ebnete ihm den Weg. Die Berliner Medizinhistorikerin Ulrike Thoms beschreibt diese Kontinuität in ihrem Beitrag schonungslos und lakonisch. Kraut und seine Mitarbeiter zeigten nicht die geringste Reue, er selbst trat in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen als Gutachter für die Verteidigung auf, indem er die Ernährungssituation der Arbeitssklaven beschönigte und im Gegenzug hierfür beachtliche Drittmittel seitens der Firmen der Angeklagten einstrich. Im Laufe der 1960er Jahre verlegte Kraut sein Engagement auf die internationale Ebene, gründete eine Arbeitsstelle in Tansania und betätigte sich – welch Perversion – an führender Stelle in der „Deutschen Welthungerhilfe“. Gegen Ende seiner Karriere musste er allerdings akzeptieren, dass seine Nachfolger gänzlich andere Forschungsschwerpunkte setzten als er selbst.

Während die Reichswehr in den 1920er Jahren das Personal für Reihenstudien stellte, lieferte die Montanindustrie das Geld und bot eigene Forschungsperspektiven. Der Berliner Wissenschaftshistoriker Sören Flachowsky schildert beispiel- und kenntnisreich die Bedingungen und Möglichkeiten des finanziell von der Industrie weitgehend abhängigen KWI für Arbeitsphysiologie in den 1920er Jahren. Nach 1933 änderten sich die Prämissen insoweit, dass neben der Unterstützung der staatlich geforderten Autarkie im Vierjahresplan auch das Glück und die Zufriedenheit des Arbeiters auf eine Ebene mit den Vorteilen für die Industrie gehoben wurden. Diese Aufarbeitung lässt erahnen, dass die Gelehrten im KWI vor 1933 mit Gewerkschaften und im Nationalsozialismus mit der Deutschen Arbeitsfront (DAF) zu tun hatten. Deren Einflussbemühungen auf das Institut schildern in den folgenden Kapiteln Rüdiger Hachtmann und Karl Lauschke. Weshalb die DAF zeitlich unlogisch vor den Gewerkschaften behandelt wird, bleibt das Geheimnis der Herausgeber. Der krakenhafte Apparat der DAF wollte das KWI für Arbeitsphysiologie und seine Mitarbeiter zwangsvereinnahmen, die Gewerkschaften bemühten sich stets immerhin um Einfluss. Beide scheiterten weitgehend. Nach 1945 kam es zu einer eher verkrampften Annäherung von nationalsozialistisch belasteten Gelehrten und vormals verfolgten Gewerkschaftsfunktionären. Nur 1957 bei der Neuregelung des Jugendarbeitsschutzgesetzes gelang eine wirkliche Zusammenarbeit. Viel besser funktionierte da das Zusammenwirken mit der neu gegründeten Sozialforschungsstelle der Universität Dortmund. Deren Mitarbeiter übernahmen methodische und wissenschaftstheoretische Konzeptionen von Otto Graf, der so seine rassenbiologisch desavouierte Arbeitspsychologie in die Bundesrepublik hinüber retten konnte. Doch mit seiner Pensionierung 1959 und der Neubesetzung der Leitung der Sozialforschungsstelle mit Helmut Schelsky endete die Zusammenarbeit. Neue Methoden, Ziele und Modelle bestimmten das Interesse der Sozialforschung. Dieser Bruch mit alten Denkmodellen, der Ende der 1950er Jahre in der gesamten deutschen scientific community begann und Anfang der 1970er Jahre abgeschlossen war und der sich auch durch die Aus- und Neugründung von Instituten aus dem alten KWI für Arbeitsphysiologie auszeichnete, hätte an dieser Stelle eventuell mit einem eigenen Kapitel genauer gewürdigt werden können. Der Generationenbruch zwischen den in den Nationalsozialismus direkt verwickelten Lehrmeister und ihrer jüngeren, aufstrebenden Schülerelite hätte die Leistungen, Defizite und Probleme der vom internationalen Diskurs immer wieder entkoppelten deutschen Arbeitsphysiologie vermutlich gut aufzeigen können.

Im Ganzen bietet der vorliegende Sammelband eine Unmenge an wertvollen Informationen, Biographien, Kooperationsbeschreibungen und Abgrenzungsstrategien deutscher Arbeitswissenschaftler. Die Informationen sind dank eines informativen Personenregisters zu erschließen, durch die Aufsätze selbst geschieht das nur partiell. Die einzelnen Teile des vorliegenden Buches wirken seltsam unkoordiniert. Das macht das Buch leserunfreundlich, mindert seinen wissenschaftlichen Wert aber nur in geringen Teilen. Es ist ein Anfang gemacht, weitere Studien sollten folgen. 

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Citation: Florian Mildenberger. Review of Plesser, Theo; Thamer, Hans-Ulrich, Arbeit, Leistung und Ernährung: vom Kaiser-Wilhelm-Institut für Arbeitsphysiologie in Berlin zum Max-Planck-Institut für Molekulare Physiologie und Leibniz-Institut für Arbeitsforschung in Dortmund. H-German, H-Net Reviews. February, 2014.
URL: http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=38576

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