Becker on Braun and Lachenicht, 'Hugenotten und deutsche Territorialstaaten: Immigrationspolitik und Integrationsprozesse (Les Etats allemands et les huguenots : politique d'immigration et processus d'integration)'
Guido Braun, Susanne Lachenicht, eds. Hugenotten und deutsche Territorialstaaten: Immigrationspolitik und Integrationsprozesse (Les Etats allemands et les huguenots : politique d'immigration et processus d'integration). Pariser Historische Studien. Munich: R. Oldenbourg Verlag, 2007. 255 pp. EUR 34.90 (cloth), ISBN 978-3-486-58181-2.
Reviewed by Judith Becker (Institut für Europäische Geschichte, Mainz)
Published on H-German (June, 2009)
Commissioned by Susan R. Boettcher
Integration, Akkulturation und Assimilation von Hugenotten im Deutschland der Frühen Neuzeit
Dieser zweisprachige Sammelband präsentiert die Ergebnisse eines Kolloquiums, das 2007 am Deutschen Historischen Institut in Paris stattfand. Im Mittelpunkt stehen neuere Forschungen zu hugenottischer Ansiedlung in deutschen Territorien der Frühen Neuzeit, wie sie insbesondere von jüngeren Forschern betrieben werden. Der zeitliche Schwerpunkt liegt, auch für diejenigen Territorien und Reichsstädte, in denen die hugenottische Immigration schon in der Mitte des 16. Jahrhunderts begann, auf dem 17. und 18. Jahrhundert, der inhaltliche Akzent, wie auch schon der Titel andeutet, auf politischen Prozessen. Dies zeigt sich auch in der Auswahl der Themen. Der Band ist von einer deutschsprachigen Einleitung durch die Herausgeber und ein französisches Schlußwort von Myriam Yardeni gerahmt. Auch für Forscher, die nur eine der beiden Sprachen beherrschen, ist er gut zugänglich, da jeder Beitrag durch eine Kurzzusammenfassung in der jeweils anderen Sprache beschlossen wird. Personen-, Orts-, und Sachregister runden den Band ab.
Der Sammelband ist in drei Abteilungen gegliedert, von denen die erste unter dem Titel Les gouvernements allemands et l'immigration des huguenots die längste ist und Beiträge zu unterschiedlichen Territorien vereint. Die zweite beschäftigt sich mit den Beispielen Berlin und Brandenburg-Preußen, und die letzten beiden Artikel blicken auf die Beziehungen zwischen Berliner Hugenotten und Frankreich.
Dominique Guillemenot-Ehrmantraut untersucht "L'immigration des huguenots dans le Palatinat entre 1649 et 1685" anhand verschiedener Mandate und Kapitulationsverträge, welche die Hugenotten mit Kurfürst Karl Ludwig schlossen, und stellt die wichtigsten Daten aus der Geschichte der einzelnen Hugenottenansiedlungen in der Kurpfalz dar. So erhält der Leser einen Kurzüberblick über die verschiedenen Hugenottensiedlungen. Die Autorin weist darauf hin, daß der Kurfürst bei der Hugenottenansiedlung insbesondere wirtschaftliche Interessen verfolgte, die Flüchtlinge jedoch auch wegen ihrer Loyalität zur Obrigkeit und ihrer Religionszugehörigkeit schätzte.
Die Studie von Michelle Magdelaine zu "Francfort-sur-le-Main et les réfugiés huguenots" schließt hier an. Auch in Frankfurt standen im 17. Jahrhundert wirtschaftliche Interessen bei der Zulassung von Hugenottenimmigration im Vordergrund. Um den Status als Freie Reichsstadt nicht zu gefährden und um Auseinandersetzungen um die Konfession zu verhindern, hatte der Frankfurter Stadtrat Anderskonfessionellen die Bürgerrechte verweigert. Der Zuzug von Hugenotten hingegen versprach der Stadt wirtschaftliche Vorteile. So wurden die Hugenotten unter der Bedingung zugelassen, daß sie ihre Gottesdienste außerhalb von Frankfurt feierten und ihre Armen selbst versorgten. Magdelaine weist nach, wie viele hugenottische Flüchtlinge, teils mehrfach, durch Frankfurt zogen.
Den Fall eines (religions-)historisch andersgelagerten Territoriums analysiert Katharina Middell in ihrem Beitrag "Hugenotten in Kursachsen: Einwanderung und Integration". Im lutherischen Kursachsen fand keine zielgerichtete Einwanderungspolitik statt; erst Anfang des 18. Jahrhunderts erhielten die Reformierten die Erlaubnis zur öffentlichen Religionsausübung. Sachsen fällt mithin aus der Menge der untersuchten Territorien heraus. Hier blieb die hugenottische Einwanderung marginal, auch wenn es sowohl kleinere gezielte Ansiedlungsversuche--wieder aus wirtschaftlichen Gründen und in der Regel auf einzelne Berufsgruppen spezialisiert--als auch "freiwillige", also nicht von der Obrigkeit geförderte Immigration von Hugenotten gab, letztere insbesondere in Leipzig. Hier scheinen in der Politik der Stadt Parallelen zu Frankfurt auf. Middell stellt die Integrations- und Anpassungsbemühungen der Hugenotten in Leipzig dar.
Der Beitrag von Susanne Lachenicht steht unter dem Titel "Die Freiheitskonzession des Landgrafen von Hessen-Kassel, das Edikt von Potsdam und die Ansiedlung von Hugenotten in Brandenburg-Preußen und Hessen-Kassel". Für Hessen-Kassel arbeitet sie das Interesse des Landgrafen an der Hugenotten-Ansiedlung, vor allem aus politischen und wirtschaftlichen Gründen, heraus. Gleichzeitig verwandte sich der Landgraf gegen die Vermischung der Hugenotten mit seinen Untertanen. Brandenburg-Preußen war wegen seiner Rückständigkeit zunächst zu größeren Zugeständnissen an die Migranten bereit als andere Länder. Selbst eine eigene Jurisdiktion wurde den Einwanderern zugestanden. Lachenicht betont, wie sehr die Einwanderungspolitik von den persönlichen Präferenzen der Herrscher und von der wirtschaftlichen und politischen Situation der Einwanderungsgebiete abhing.
Françoise Moreil beschäftigt sich mit einer Sondergruppe hugenottischer Einwanderer: "Une arrivée retardée. Les Orangeois à Berlin en 1704". Sie präsentiert eine detaillierte sozialgeschichtliche Analyse der Einwanderer und ihrer Ansiedlung in Berlin. Besonders bemerkenswert ist, daß die Immigranten aus dem Fürstentum Oranien, gestützt durch Institutionen wie das Tribunal d'Orange, innerhalb der Berliner Hugenotten bis ins 19. Jahrhundert hinein eine eigenständige Gruppe bildeten.
Ulrich Niggemann verfolgt in seinem Beitrag über "Die Hugenotten in Brandenburg-Bayreuth. Immigration als 'kommunikativer Prozeß'" einen theoriegeleiteten Ansatz. Er hebt hervor, "dass die Organisation und Durchführung der Immigrationspolitik im kommunikativen Austausch und in der Auseinandersetzung mit den betroffenen Interessengruppen stattfand" (S. 123); seine Analyse des Entstehungsprozesses der Privilegien und des Ansiedlungsvorgangs dient diesem Nachweis.
Klaus Weber untersucht "La migration huguenote dans le contexte de l'économie atlantique: l'exemple de Hambourg (1680-1800)". Dezidiert möchte er mit seinem Beitrag einen Gegenentwurf gegen die von ihm diagnostizierte Prädominanz der religions-, politik- oder kulturgeschichtliche Erforschung der Hugenottenmigration setzen und zeigen, daß die Auswanderungswahl der Hugenotten ebenso von ökonomischen wie von politischen und religiösen Motiven geprägt war. Dies lasse sich an Hamburg besonders gut demonstrieren, denn weder politisch noch religiös habe Hamburg den Hugenotten wesentlich bessere Bedingungen als Frankreich geboten. Die Attraktivität Hamburgs bestand im Hafen und seinen Handelsbeziehungen, welche die hugenottischen Immigranten intensiv nutzten.
Zu Beginn der zweiten Abteilung analysiert Eckart Birnstiel "Asyl und Integration der Hugenotten in Brandenburg-Preußen" unter dem besonderen Gesichtspunkt von Identitätsbildung und Integrationsprozessen. Er weist nach, wie sich die französische Flüchtlingsidentität der Hugenotten herausbildete und auch von der sie aufnehmenden Gesellschaft gefördert wurde. Bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts bestanden sie als eigenständige Gruppe innerhalb Brandenburg-Preußens. Infolge des Toleranzedikts löste sich die Flüchtlingsidentität auf und dann auch die Gruppenidentität. Allerdings gingen die Hugenotten nicht vollständig in der Gastgesellschaft auf: Ihre Kirchenordnung und ihre Schiedsgerichte blieben bestehen. Der Artikel wird abgerundet durch Überlegungen zu Integrationsprozessen.
Manuela Böhm untersucht die Integration und Assimilation der Hugenotten anhand ihrer sprachlichen Anpassung: "Le changement du français à l'allemand chez les huguenots de la colonie de Berlin et dans les colonies rurales du Brandebourg". Sie unterscheidet die verschiedenen Anpassungskontexte (Stadt/Land, soziale Gegebenheiten), Sprachmodalitäten (schriftliche, gesprochene Sprache) und zeigt, daß auch innerhalb der Schriftsprache die Assimilation zu unterschiedlichen Zeiten stattfand, je nach Textgattung. So wurden Tauf-, Heirats- und Sterberegister in der Regel länger in Französisch geführt als die Kirchenratsprotokolle. Böhm demonstriert, wie lange die Hugenotten zweisprachig aufwuchsen.
Mit hugenottischer Historiographie beschäftigt sich Viviane Rosen-Prest in ihrem Beitrag "Historiographie et intégration culturelle: l'exemple des 'Mémoires des Réfugiés' d'Erman et Reclam". Die neunbändige Geschichte der Flüchtlinge vom Ende des 18. Jahrhundert sollte die Hugenotten an ihre Ursprünge erinnern und ihre traditionellen Werte wiederbeleben. Gleichzeitig zeigte sie den Nutzen auf, den die Migranten Preußen gebracht hatten. Auch hier standen die Werte im Vordergrund. Rosen-Prest spricht von einer "acculturation inversée et paradoxale" (S. 185). Die von der Aufklärung geprägte Historiographie der Berliner Pastoren hat die Geschichtsschreibung langzeitig beeinflußt.
Franziska Roosen stellt anhand des Lehrerseminars "Erziehung und Bildung von Hugenotten in Berlin" dar. Obwohl die Hugenotten in Berlin eine Minderheit waren, schufen sie eines der wenigen Lehrerseminare des 18. Jahrhunderts. Dies unterschied sich in zwei Punkten von den übrigen Lehrerseminaren: Es hielt an der französischen Sprache fest und legte besonderen Wert auf die Vermittlung des reformierten Glaubens. Diese beiden Marksteine der hugenottischen Identität sollten bewahrt werden.
In der dritten Abteilung stellt Frédéric Hartweg in einem großen Überblick "Toleranz, Naturrecht und Aufklärung/Lumières im Berliner Refuge" dar. Die französischen Protestanten, in ihrer Heimat zur Apologie gezwungen, fungierten im Exil, insbesondere durch die Erstellung und Verbreitung von Zeitschriften, als Vermittler zwischen französischer und deutscher Aufklärung und wirkten so auch an der Machtverschiebung von den südlichen katholischen Ländern zum protestantischen Norden mit. Die Mediationsarbeit der Hugenotten wurde ermöglicht durch die tolerante Haltung der Hohenzollern. Die Hugenotten traten jedoch nicht nur als Mittler und Multiplikatoren auf, sondern trugen auch zur Durchsetzung des Französischen als neuer Gelehrtensprache bei.
Von einer anderen Seite nähert sich Jens Häseler der Stellung der Hugenotten zwischen den Welten: Er untersucht ihre Reisetätigkeit in seinem Beitrag "Entre la France et le Brandebourg: la république des lettres. Choix et repères de gens de lettres huguenots au XVIII siècle". An einem Fallbeispiel demonstriert er, wie Hochschätzung von französischer Kultur und Gelehrsamkeit, besonders der Aufklärung, und Ablehnung von französisch-katholischer Konfession und bestimmter ethisch-moralischer Haltungen nebeneinander bestanden. Die Bedeutung der Hugenotten für die Hohenzollern und die Regierung und Verwaltung des Landes wird an zwei Beispielen dargelegt.
Wie Myriam Yardeni in ihren "Conclusions" betont, zeigt der Sammelband die unterschiedlichen Weisen von Integration, Inkorporation, Akkulturation und Assimilation auf. Von verschiedenen Blickwinkeln und unter unterschiedlichen Aspekten werden die Wege der Anpassung dargelegt, die, so der Tenor des Bandes, schließlich in einer Auflösung in die Gastgesellschaften mündeten. Umso mehr ist zu bedauern, daß die Konfessionsfrage, wegen der die Hugenotten aus Frankreich vertrieben worden waren, die in den aufnehmenden Territorien und Gesellschaften immer wieder zu Konflikten führte und bei der die Anpassungsprozesse am längsten dauerten, bzw. lange Zeit gar nicht begannen, in dem Band nur am Rande erwähnt wird. So werden Integration und Assimilation auf politischem und sozialem Gebiet untersucht, doch das Bild bleibt lückenhaft. Zwar sprechen die meisten Beiträge die Konfessionsproblematik an, eine eigenständige Untersuchung ist ihr jedoch nicht gewidmet. Dabei hätte gerade eine solche Betrachtung das Ergebnis relativiert und differenziert: Während die Hugenotten sich in vielen Bereichen des Lebens relativ schnell anpaßten, blieben sie auf dem Gebiet der Religionsausübung vielerorts lange von ihren Gastgesellschaften geschieden. Auch ist der Einfluß der Hugenotten auf die Gastgesellschaften gerade in religiöser Hinsicht nicht zu unterschätzen. Die Konfessionsfrage hätte zu einer umfassenden Untersuchung der Integrationsprozesse gehört. Die Stärke des Bandes liegt nicht so sehr in der Präsentation teils sehr knapper Einzelergebnisse sondern in der Zusammenstellung der unterschiedlichen Integrationswege und -weisen und der teilweise sehr genauen auch sprachlichen Differenzierung zwischen den verschiedenen Formen der Anpassung. So kann er die Identitäts- und Integrationsforschung einen guten Schritt weiterbringen.
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Citation:
Judith Becker. Review of Braun, Guido; Lachenicht, Susanne, eds., Hugenotten und deutsche Territorialstaaten: Immigrationspolitik und Integrationsprozesse (Les Etats allemands et les huguenots : politique d'immigration et processus d'integration).
H-German, H-Net Reviews.
June, 2009.
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