Stannek on Dannenberg and Mulsow and Lutz, 'The Berlin Refuge 1680-1780: Learning and Science in European Context'


Sandra Pott Dannenberg, Martin Mulsow, eds. Lutz. The Berlin Refuge 1680-1780: Learning and Science in European Context. Boston: Brill, 2003. 268 pp. $99.00 (cloth), ISBN 978-90-04-12561-2.

Reviewed by Antje Stannek (Technische Universität Braunschweig)
Published on H-German (May, 2005)

Bildung und Wissenschaft stehen im Mittelpunkt der neun Aufsätze, in denen die Verfasser den Anteil der Hugenotten am europäischen Wissenstransfer zwischen 1680 und 1780 untersuchen. Der Band sammelt die Beiträge eines internationalen Kongresses, der im Jahre 2000 an der Humboldt-Universität in Berlin dem Refuge gewidmet war.

Als er 1685 das Edikt von Nantes widerrief, verursachte Ludwig XIV. den Exodus der französischen Protestanten in ihnen wohl gesonnene Staaten. Die Hugenotten verfügten über ein weitverzweigtes europäisches Kommunikationsnetz, welches sie für ihre Migration nutzten. Ungefähr einhundert Jahre lang konnte dieses Netzwerk aufrecht erhalten werden, bis etwa um 1780 die meisten Hugenotten in den Einwanderungsstaaten soweit assimiliert waren, dass sie ihrer europäischen Netzwerke nicht mehr bedurften.

Zwischen 1680 und 1780 prägten die Hugenotten ihre Zufluchtsländer in besonderer Art und Weise. Die Herausgeber gehen von dem Vorverständnis aus, dass die Hugenotten die kalvinistischen Wertvorstellungen in ihre neuen Heimatländer gebracht oder dort verstärkt haben und damit im Sinne von Max Weber die "protestantische Ethik" bei der jeweiligen Bevölkerung forciert hätten.

Die beiden ersten Beiträge von Sandra Pott und Martin Mulsow widmen sich den kulturellen Errungenschaften der Berliner Hugenotten. Die folgenden sechs Abhandlungen sind biographisch angelegt: Lutz Dannenberg beschäftigt sich mit der biblischen Philologie Ezechiel Spanheims; John Christian Laursen analysiert Isaac de Beausobres Zeitbewusstsein; Fiammetta Palladini widmet sich dem in Vergessenheit geratenen Pufendorf-�bersetzer Antoine Teissier; Fabrizio Lomonaco analysiert die Naturrechtslehre von Jean Barbeyrac. Der Popularisierung des französischen Wissens sind die Beiträge von Herbert Jaumann und Annett Volmer gewidmet. Jaumann beschreibt anhand des Schaffens von Gabriel d'Artis den Berliner Journalismus um 1700, und Vollmer trägt Jean-Henri-Samuel Forneys Ratschläge zum Aufbau einer Privatbibliothek vor. Der Band schlie�t mit einer Erörterung der Situation der Hugenotten in den Vereinigten Provinzen durch Joris van Eijnatten.

Zunächst zur Situation der Berliner Hugenotten: Sandra Pott sieht die enge Verbindung von Kalvinismus und Staatsbildung in Preu�en als eine Folge der engen Beziehung zwischen den französischen Glaubensflüchtlingen und den preu�ischen Königen. Allerdings war der Refuge keineswegs ein einheitlicher sozialer Block. Waren damit im engeren Sinn die französischen Reformierten gemeint, so umfasste die Gruppe in der weiteren Bedeutung auch die protestantischen Gläubigen aus den Niederlanden, der Schweiz, natürlich aus Frankreich, aber auch die Waldenser und die Anhänger des Heidelberger Katechismus. Der Refuge war also eine hybride Institution, die gerade in der Beschwörung ihrer gemeinsamen Glaubensüberzeugungen ihre Gestalt inszenierte.

Im Beitrag von Mulsow wird der Refuge von seinen intellektuellen Grenzen her betrachtet. Mulsow plädiert für eine Konstellationsanalyse des Refuge, wodurch die Netzwerke der Berliner Intellektuellen sichtbar und so ihre gegenseitige Beeinflussung deutlich würden. Relativ gut bekannt seien die Arbeitszusammenhänge bei den gro�en Projekten der Hugenotten. Widmet man sich hingegen den abseitigen Themen der Refuge-Autoren, so erkenne man eine zunehmende Tendenz zum skeptischen Denken und zum toleranten Umgang mit anderen Fragen des Decorum, wie z. B. der Pornographie. Die Methode der Selbst-Distanzierung von einem Untersuchungsobjekt, welche die Refuge-Autoren zunächst bei der Rekonstruktion ihrer eigenen Vergangenheit im Blick auf die Kirchengeschichte und dann im Blick auf die Vorläufer der reformatorischen Bewegungen in Europa entwickelten, habe auch auf andere moralische oder philosophische Wissensgebiete gewirkt und dort bei ihnen zu einer grö�eren Toleranz geführt. Diese These erscheint der Rezensentin allzu gewagt, lassen sich doch in den Vereinigten Provinzen (und mehr noch in den Vereinigten Staaten) Beispiele dafür finden, dass die Auseinanderentwicklung verschiedener kalvinistischer Glaubensrichtungen mit einer eher rigideren Sozial- und Moralkontrolle einhergeht.

Zahlreiche Autoren des Refuge waren Zeitungsschreiber. Herbert Jaumann widmet sich der verlegerischen Tätigkeit von Gabriel D'Artis und liefert Einblicke in den Berliner Journalismus um 1700. Sein primäres Erkenntnisinteresse richtet sich auf die Gattungsdefinition der Periodika. Unter diesen Blättern befinden sich dann auch einige Journale von französischen Protestanten. Jaumann kann anhand der Unternehmungen von D'Artis herausarbeiten, dass die reformierten Journalisten aufgrund ihres politischen Schicksals besonders marktorientiert gehandelt haben und sich daher durch Innovationsfähigkeit und Risikofreude auszeichneten. Dieses Merkmal scheint häufig den Einwanderern eigen zu sein. Von einer spezifischen Ausprägung eines Journalismus des Refuge will Jaumann aber nicht sprechen.

Zuletzt sei hier noch etwas näher auf den aufschlussreichen Bericht von Joris van Eijnatten, der die Lage der Hugenotten in den Vereinigten Provinzen zusammenfasst, eingegangen. Im Unterschied zu den 1685 vergleichsweise kleinen deutschen Territorialstaaten, die französische Protestanten aufnahmen--wie Hessen-Kassel oder Brandenburg-Preu�en--waren die Niederlande zu diesem Zeitpunkt ein intellektuell und wirtschaftlich weit entwickeltes Land, das nicht unbedingt auf den französischen Input wartete. Hier trafen die Flüchtlinge also auf ein dezidiert anderes Umfeld. Zum einen hatten die Niederländer keinen besonderen Nachholbedarf in kultureller oder in intelektueller Hinsicht, zum anderen hatte sich dort bereits eine Religionspolitik etabliert, welche mehrere konfessionelle Standpunkte gewähren lie�. In einer solchen Gesellschaft fielen dann auch die Hugenotten gar nicht mehr besonders auf. Zumindest dann nicht, wenn sie sich dieser offiziellen Kirchenpolitik der Vereinigten Provinzen beugten. Sympathisierte man jedoch mit einer radikaleren Version, wurde man--wie die niederländischen Arminianer oder andere, nicht-integrationswillige Gruppen--an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die hohe Präsenz französischer Akademiker an den holländischen Universitäten und Hohen Schulen war nicht unbedingt einer konfessionellen �berzeugung geschuldet, so van Eijnatten, vielmehr waren die Franzosen auf dem Bildungsmarkt zahlreich vorhanden und auch auf ein niedriges Gehalt angewiesen. Es waren in den Vereinigten Provinzen wohl auch grö�ere Teile der Bevölkerung französischsprachig, soda� sich in den Privathaushalten für viele Franzosen ein Auskommen fand. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts veränderte sich schlie�lich das politische Klima. Die konfessionelle Politik wurde nun von den niederländischen Intellektuellen kritisiert, und in diese Kritik stimmten vereinzelt auch Hugenotten ein. Nun richtete sich der Blick auch auf die deutschen Territorien und das Gedankengut des Berliner Refuge wurde faktisch zeitverzögert über die Göttinger Akademie der Wissenschaften nach Holland getragen.

Gerade der Beitrag über die Niederlande lässt den strukturellen europäischen Vergleich weiterhin lohnend erscheinen. Die biographischen Studien zeigen die hohe Mobilität der Mitglieder des Refuge. Die Gruppe der französischen Glaubensflüchtlinge bleibt allerdings so heterogen, dass die meisten Autoren nicht von dem Refuge sprechen wollen. Ein Vergleich mit anderen konfessionellen Randgruppen steht noch aus. Dabei gilt es dann auch zu beobachten, inwiefern religionsferne Motive das Handeln der Migranten bestimmten. Der Band schlie�t mit einem hilfreichen Namensindex und ist sorgfältig lektoriert. Er bietet zahlreiche Beispiele für den europäischen Kulturtransfer der Hugenotten.

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Citation: Antje Stannek. Review of Dannenberg, Sandra Pott; Mulsow, Martin; Lutz, eds., The Berlin Refuge 1680-1780: Learning and Science in European Context. H-German, H-Net Reviews. May, 2005.
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